„Von wegen staubig und emotionslos. Iphigenie auf Tauris ist einen Besuch definitiv wert.“

2012, Inszenierung am RLT Neuss

Konzept und Regie: Antje Thoms nach Johann Wolfgang von Goethe, Euripides, Fassbinder u.a. Dramaturgie: Stefanie Schnitzler Ausstattung: Ivonne Theodora Storm Fotos: Anke Sundermeier / Stage Picture

Mit: Joachim Berger, Katharina Dalichau, Richard Erben, Michael Großschädl, Jonathan Schimmer, Christina Schumann, Georg Strohbach, Tim Wittkop

„Du glaubst, es höre der rohe Barbar die Stimme der Menschlichkeit, die der Grieche nicht vernimmt?“

Auf Thoas Inselreich Tauris herrschen andere Gesetze als in der europäischen Heimat. Iphigenie ist die erste Fremde, die hier strandet und am Leben gelassen wird. Sie wird nicht für die Göttin geschlachtet und schafft den alten Brauch der Menschenopfer ab. Thoas, Tauris Herrscher, vertraut Iphigenie und wirbt um sie. Als sie jedoch seine Liebe nicht so erwidert, wie er es sich vorstellt, besteht er auf den alten taurischen Gesetzen und zwingt Iphigenie, die Menschenopfer wieder einzuführen. Zwei Fremde sind gestrandet, an ihnen soll das Exempel statuiert werden. Es sind – was für ein Zufall! – Iphigenies Bruder Orest und sein Freund Pylades. Als die Geschwister sich endlich erkannt haben – Orest vom Wahn geheilt, Pylades für einen Moment ohne Verantwortung, Iphigenie glücklich und die gemeinsame Flucht in die Heimat geplant ist – beginnt Iphigenie zu zweifeln. Verrat und Betrug? Mord und Totschlag? Immer stärker bedrängen sie die Forderungen, die alle Seiten und vor allem ihr eigenes Gewissen an sie stellen. Die Freunde sind in tödlicher Gefahr, der König nahm sie freundlich auf und wurde ihr ein zweiter Vater, die Götter, die sie anruft, schweigen. Im Moment größter Not verrät Iphigenie Thoas die geplante Flucht und gibt damit alle Verantwortung in seine „barbarischen“ Hände.

Der ungebrochene Glaube an die Vernunft, an die Vermittelbarkeit von zivilen Werten, an die Kraft des Wortes und an das Gute im Menschen  –  wer wäre nicht skeptisch?

Neben den Goetheschen Versen und Teilen aus seiner Prosafassung fokussieren Texte von Euripides bis Fassbinder den Konflikt zwischen „zivilisierten“ Griechen und „barbarischen“ Taurern. Und sonst?: Das Märchen vom Kinderglauben an die heile Welt, in der das Böse gut und der Mensch stark ist. Eine der schönsten traurigen Liebesgeschichten. Und fast eine Komödie.

Zwischen Emotion und alten Bräuchen

Antje Thoms zeigt am Landestheater eine klug bearbeitete Fassung von Goethes Iphigenie auf Tauris. Barbaren leben weit weg, in unwirtlichen Gegenden. Sie tragen seltsame Masken, sprechen unverständliches Kauderwelsch und pflegen raue Sitten. Nicht einmal vor Menschenopfern schrecken sie zurück. Was aber, wenn ein Flüchtling von den Barbaren freundlich aufgenommen wird? Ist er zur Solidarität verpflichtet, selbst im Konflikt mit den eigenen Landsleuten? Diesen Konflikt zeigt das Stück, das am Freitag seine umjubelte Premiere erlebte. Während die Griechen einen Fluchtplan schmieden, beteiligt sich Iphigenie (herausragend: Katharina Dalichau) nur halbherzig. Und Taurer-König Thoas beharrt auf den alten Bräuchen. Dass sich Goethes Dialogdrama über Pflicht und Neigung dabei als hochemotionales Stück präsentiert, ist vor allem der durchgehenden Bearbeitung und Verfremdung zu verdanken. Anders als bei Goethe sind hier die Barbaren allgegenwärtig, was der Inszenierung ihren speziellen Charakter verleiht. Da ist es nur konsequent, wenn die Inszenierung Goethes versöhnliches Ende in Frage stellt.

Wem nützt es, ein guter Mensch zu sein?

Iphigenie auf Tauris. Ein Drama vom Johann Wolfgang von Goethe und Abitur relevante Lektüre. Was soll man davon halten? Ein öder Schinken? Schwere Monologe mit ein bisschen Schminke aufgepeppt? Emotionsloses Gehabe und ein unrealistisches, utopisches Ende? Nein, Nein und nochmal Nein! Eher Witz, Charme und eine kleine Portion Skepsis. Wer sich in seiner mündlichen Abi-Prüfung ganz und gar auf diese Inszenierung verlassen will, der sei allerdings gewarnt: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sich Pylades an Iphigenie ranmacht, Orest und Thoas mit Paddel und Regenschirm gegeneinander kämpfen oder der König höchst selbst zum Abschied ein kleines Liedchen trällert, mit Gitarrenbegleitung unterm Sternenhimmel. Der Grundkonflikt wird dennoch mehr als deutlich: Wer dankt einem Großmut? Lohnt sich Großmut? Wem nützt es, ein guter Mensch zu sein? Ist es nicht vielmehr ein Zeichen von Schwäche denn von Stärke? Und dann: Was ist Heimat? Wo ist Heimat? Kann ein fremder Ort zur Heimat werden? Und kann das Vaterland sich entfremden? Diese beiden Themen sind zentral, sowohl für Goethes Stück, als auch für die Inszenierung von Antje Thoms. Goethe lässt keinen Zweifel: Humanität! Humanität! Schreit er laut, eine Utopie der Menschheit. Thoms stellt das in Frage, aber letztendlich muss sich jeder sein eigenes Urteil bilden. Wer würde einem Großmut danken? Ist am Ende doch der Bösewicht der Sieger? Von wegen staubig und emotionslos. „Iphigenie auf Tauris“ ist einen Besuch definitiv wert.

Schuld wird relativ

Ja, es ist eine gewaltige Wörterschlacht, die einen bei Goethes Iphigenie erwartet: in Vers gefasste Dialoge gefüllt mit tragischen Geschichten, familiären Bürden und menschlicher Zerrissenheit. Ein antikes Thema nach Euripides, bei dem Goethe den Humanismus nach vorne rückt. Weniger ein Werk für die Augen, als eines für die Ohren. Da tut es gut, dass Regisseurin Antje Thoms für ihre Bühnenfassung mit dem Rotstift kräftig einstreicht und weitestgehend auf Goethes Prosafassung zurückgreift. Dazu baut sie Passagen aus modernen Iphigenie-Interpretationen und Neueinlagen ein und lockert vereinzelt mit zartem Humor. Das erleichtert den Einstieg in den komplexen Abiturstoff und lässt den Zuschauer ohne Längen einem interessanten Theaterabend folgen. Regisseurin Antje Thoms baut auf die Menschlichkeit, legt aber in ihrer Inszenierung mehr Augenmerk auf die Taurer und damit auf den Einfluss fremder, unverstandener Kulturen. Ein Volk, das anders ist, das Iphigenie ablehnt, weil es andere Sitten und Bräuche hat, die sie nicht begreift. Die Schuld wird relativ, wankt zwischen griechischer Familienrache und archaischen Bräuchen hin und her. Auch Thoms Ende will sich nicht in Goethes heiles humanes Zugeständnis fügen. Trällernde Liebessehnsucht als Wink zu ungeniertem trivialen Zeitgeist? Drohende Rachegelöbnisse in Zeiten anpassungsfähiger Machtinstanzen? Ein Abend mit Überraschungen. Eine Darbietung mit im kraftvollen Spiel durchweg überzeugenden Darstellern. Ein Orest, dem man an den Lippen haftet. Eine Iphigenie, die in ihrer Intensität ans Schauspiel bindet. Thoms Inszenierung ist ein kreativer, lebhaft bunt eingefärbter Cocktail aus antikem Mythos, klassischem Drama und modernem Esprit.

Spagat zwischen der Historie und dem Heute

„Der Text ist langweilig, es passiert fast nichts“, lässt gleich zu Anfang Arkas das Publikum wissen. Umso mehr kommt es auf die Darstellung und Regie an, wenn Goethes Werk „Iphigenie auf Tauris“ gespielt wird. Regisseurin Antje Thoms wagt einen Spagat zwischen der Historie und dem Heute – ein Handgriff, der vom Original entfernt, aber gelingt. Moderne Facetten treffen auf die klassische Prosasprache Goethes, das Stück wurde gekürzt, dafür aber spannungsreich verdichtet. Fremde und Heimat werden zu einem zentralen Punkt, das barbarische Tauris wird zum Symbol für eine fremde Kultur. Ein konsequenter Bruch zu Goethe: Die buntgekleideten Taurer sind den ganzen Abend allgegenwärtig. Angepasst wird auch der Schluss. Siegt bei Goethe der Humanismus, wird er jetzt hinterfragt, die Figuren bleiben unversöhnlich. Freund oder Feind? Rache oder Vergebung? Pflichtgefühl oder Selbstbestimmung? Neben dem Heimataspekt sind das weitere Fragen, die das Werk Goethes zu beantworten sucht. Und damit das Publikum (darunter viele Oberstufenschüler, die „Iphigenie“ als Abi-Thema bearbeiten) voller Emotion erreicht – trotz der Handlungsarmut, die das Stück selbst bietet.

Spannendes, dramatisches Bühnengeschehen

„Den ganzen Tag brüt’ ich über ‚Iphigenie’, dass mir der Kopf ganz wüst ist“, klagte Goethe in seinem Tagebuch. Das RLT setzt in der Regie von Antje Thoms auf moderne Akzente und Abwechslungsreichtum. Die gespannte Aufmerksamkeit eines vorwiegend jungen Auditoriums – „Iphigenie“ ist Abiturstück – war zu spüren. Besondere Erwähnung verdienen die Aktionen der Taurer. Bunt gekleidet, mit Masken, seltsamen Lauten und rhythmischen Bewegungen, sorgten sie ebenso wie die Erzähler Arkas und Portas für Aufheiterungen in einem spannenden, dramatischen Bühnengeschehen.

 

Zivilisationskritik und Integrationsphilosophie

Selbst beim Schlussapplaus nach Goethes stark reduzierter „Iphigenie“ wurden den Zuschauern noch Deutungshinweise gegeben: Orest und Pylades, die beiden Griechen, die das Orakel nach Tauris geschickt hatte, bis dahin – wie Iphigenie – gesamteuropäisch mit Bluejeans und weißem Shirt bekleidet, erschienen plötzlich in einem der bunten Strickshirts, in dem die Bewohner der Schwarzmeer-Halbinsel so vorteilhaft fröhlich aussahen. Die Lösung des Bilderrätsels: In der Deutung von Regisseurin Antje Thoms sind sich die beiden jungen Männer gar nicht so sicher, ob sie in ihre Heimat Griechenland zurückkehren wollen. Und nach allem, was die Zuschauer im Verlauf des Stückes über die dort herrschenden Sitten in antiker Zeit und wohl bis heute hin erfahren, ist das so erstaunlich nicht. Vielleicht erscheint das Leben im Schoß dieser „Barbaren“-Gesellschaft sehr viel attraktiver – und genau dahin scheint die Intention dieser Inszenierung zu gehen: eine Mischung aus Zivilisationskritik und Integrationsphilosophie. Den „verteufelt humanen“ Kern der „Iphigenie“ hat die Inszenierung auf diese Weise eliminiert. Der Barbarenkönig muss sich keine humane Geste abringen, sondern darf aus der Selbstsicherheit der eigenen Position heraus Größe zeigen – eine Größe, die auf der Bühne überzeugt.

Iphigenie unter bunten Taurern

Regisseurin Antje Thoms hat aus Goethes Werk für ihre Inszenierung eine eigene Fassung konstruiert. Goethes Text ist ein Diskurs über Menschlichkeit, über Fremdheit und Dazugehören, über Rache und Vergebung, über Sehnsucht und ein Übersichhinauswachsen. Sprachlich ein Juwel, aber den Zuhörer, Leser, Zuschauer sehr fordernd. Thoms will es letzterem offensichtlich einfacher machen (sicherlich auch mit Blick darauf, dass das Stück Abiturstoff ist), dampft das Werk ein und addiert neue Spielszenen dazu – wie den Anfangsauftritt von Thoas‘ Vertrauten Arkas und (dem erfundenen) Portas als flapsige Kommentatoren. Dem friedlichen Ende bei Goethe – König Thoas (großartig: Joachim Berger) lässt Iphigenie und die beiden Fremden, die sich als ihr Bruder Orest (Michael Großschädl überaus kraftvoll) und sein Freund Pylades entpuppen, ziehen – hängt Thoms ein anderes an. Optisch genial ist die Ausstattung, die die Fremdartigkeit der Taurer und ihres archaischen Gehabes mit einer Tracht aus knallbunten Strickanzügen betont.

Ganz eigene Version von Goethes Drama

Regisseurin Antje Thoms präsentierte ihre ganz eigene, beeindruckende Version von Goethes Drama und begeisterte das Publikum durch gutes Schauspiel und ein lebendiges Bühnenbild. Mit bunten Kostümen und dem Standbild der Göttin als einem Marterpfahl, blieb zwar nicht mehr viel von Goethes Werk übrig, doch die moderne Inszenierung verdeutlichte die Thematik, den inneren Konflikt von Iphigenie und brachte den Appell an moralische Werte, die Verantwortlichkeit und die Instanz des Gewissens klar zum Ausdruck.

Moderne Inszenierung der „Iphigenie auf Tauris“ begeisterte

Das Ensemble überzeugte durch großartige Leistung. Auf seiner Suche nach sittlichen Maßstäben schuf Goethe vier Fassungen der Iphigenie, die reichlich Stoff für einen langen und langatmigen Theaterabend gegeben hätten. Doch Antje Thoms hat in ihrer Version das opulente Werk geschickt entschlackt und auf knappe 29 Seiten reduziert, die es allerdings in sich haben. Geschickt verbindet sie Einflüsse aus Goethes Prosafassungen mit seiner abschließenden Versfassung, fügt kreative, teilweise durchaus komische Elemente hinzu. So ist ihre Inszenierung trotz der angenehmen Länge von weniger als zwei Stunden anspruchsvoll, einfallsreich, treffend und witzig zugleich.