„Die Medaille für die umstrittenste Märchenproduktion der Saison geht wohl ans Stadttheater Bern.“

2008, Uraufführung am Stadttheater Bern

Text: Dagny Gioulami Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Karla Mäder Ausstattung: Bettina Latscha Musik: Edward Rushton Fotos: Annette Boutellier

Mit: Henriette Cejpek, Michael Frei, Sarah Hinnen, Matthias Hungerbühler, Danijela Milijic, Friederike Pöschel, Ernst C. Sigrist, Diego Valsecchi, Stefano Wenk

„Das ist die Geschichte von Mary Reade: Sie war ein Pirat, sie war ein Bandit. Sie segelte mit auf einer Schaluppe. Und wehe, es wagte einer sie Puppe und Mädel und Süße zu nennen – dem würde sie gleich den Finger abtrennen.“
 

Noemi schleicht sich aus der Wohnung, um in dunkler Nacht nach ihrem Plüschhund zu suchen. Per spukendem Lift gelangt sie in ein Wunderland am Ufer des Flusses, doch das Kindermädchen folgt ihr zusammen mit zwei überkorrekten Polizisten dicht auf den Fersen. Eine doppelte Verfolgungsjagd durch ein phantastisches und ein reales Bern beginnt, das von Gestalten aus Vergangenheit und Gegenwart bevölkert ist.

Kinder sind begeistert

Das „Mattemärli“ im Stadttheater kommt bei den Berner Schülern gut an. Anders sind die Zugabe-Rufe am Ende der gestrigen Vorstellung nicht zu deuten. Die Kids stiegen spontan auf die Gags ein und zumindest den roten Faden verloren sie nicht. Lehrkräfte hatten nach einer Zeitungskritik im „Bund” Bedenken, ob die Produktion kindergerecht ist. Einige gaben Billette zurück: Lehrerin Michèle Joss ist vor der Vorstellung etwas skeptisch: „Nach der negativen Zeitungskritik habe ich mir überlegt, ob wir den Besuch nicht lieber absagen sollen.“ Das Kehrauslied zum Abschluss will die Zuschauerschar gleich zwei Mal hören – mindestens. „Zugabe“ gellt es wie aus einem Mund. Und Michèle Joss? „Obergenial“, sagt sie und stellt die Klasse in Zweierreihe auf.

Medaille für umstrittenste Märchenproduktion

Die Medaille für die umstrittenste Märchenproduktion der Saison geht wohl ans Stadttheater Bern. Die Berner Schauspielerin Dagny Gioulami, die sich bereits als Autorin von Opernlibretti einen Namen gemacht hat, schrieb ein „Mattemärli“, benannt nach dem am Aareufer liegenden, häufig überschwemmten Berner Stadtteil. Der Engländer Edward Rushton komponierte dazu wunderbar beschwingte Lieder. Antje Thoms inszeniert das Stück farbenfroh mit witzigen Kostümen und einer sich wirkungsvoll wandelnden Bühne. Die Frage, was genau Kindern entspricht, werden Erwachsene nie abschließend beantworten können. Letzten Montag bedachten 600 Kinder das Ensemble jedenfalls mit langem, schreienden, hüpfenden, winkenden Applaus. Und ein Junge meinte an der Garderobe zu seinem Freund, das sei jetzt „wahnsinnig lustig“ gewesen.

Eltern stellen sich die Nackenhaare auf

In Bern spuken neuerdings tote Stadtoriginale herum, werden Polizisten in Hunde verwandelt und Kinder von Piraten entführt – jedenfalls im Weihnachtsstück „Mattemärli“. Den kleinen Premierengästen hat es gut gefallen, Eltern allerdings stellen sich die Nackenhaare auf. Witzig, turbulent, didaktisch: im „Mattemärli“ mixt Dagny Gioulami geschickt Dinge, die in Bern jedes Kind weiß, mit weniger bekannten historischen Fakten und Elementen aus Kinderbuchklassikern. Das Ganze reichert Regisseurin Antje Thoms an mit Mitmachaktionen wie gemeinsamem Schreien und Grittibänz verteilen. Nicht fehlen dürfen die üblichen Albernheiten, die Kinder so mögen, wie dusselige Polizisten, ein tuntiger Coiffeur und Männer im Tütü. Schön, dass es auch für die Erwachsenen ein paar Gags gibt, etwa das Gejammer über die „vile Tütsche“ oder einen Seitenhieb auf Marthalers „Unterhosentheater“.

Erstes Theatererlebnis

„Oh!“, tönt es im Zuschauerraum, als es auf der Bühne zu schneien beginnt. Das Publikum besteht für einmal mehrheitlich aus Kindern, und diese wissen Spezialeffekte lautstark zu schätzen. Damit operiert die Inszenierung von Antje Thoms großzügig und macht so den für viele Kinder ersten Theaterbesuch zum Erlebnis. Singen und Agieren in Doppelrollen meistern die Schauspieler bravourös.

Lustig, rasant und nie langweilig

Trotz der Kritik im Bund sollte man das “Mattemärli” nicht verpassen. Die Aufführung ist lustig, rasant, nie langweilig und so gut wie jedes Märchen geeignet für Kinder und Erwachsene. Es gibt sicher auch Anlass für aufklärende Gespräche mit den jüngeren Kindern. Warum muss denn eine Dramaturgie schlüssig sein? Sie kann doch, wenn man keine Vorurteile hat, auch offen sein.

Schiffbruch in der Matte

So prächtig die Ausstattung, so umwerfend die Komik des Schauspielteams und so vielversprechend die Geschichte ist – die Aufführung von Dagny Gioulamis «Mattemärli» am Berner Stadttheater scheitert an einer ziemlich fragwürdigen Textvorlage. Das kann auch die umwerfende Komik nicht übertünchen, mit der das Schauspielteam über weite Strecken auftrumpft. Übel artet die Geschichte im zweiten Teil aus, als der Seeräuber die Matte unter Wasser setzen will und es zum Showdown kommt. Spätestens in dieser Szene, in der Noemis Traumabenteuer zu einem Albtraum mutiert, der auch die fernsehgestählten unter den kleineren Kinder bis in den Schlaf verfolgen dürfte, nimmt einen nur noch wunder, warum diese Märchen-Titanic nicht gestoppt worden ist.

Von wegen Skandal

Am Stadttheater Bern wurde 2008 das «Mattemärli», das Orte und Motive Berns aufgreift, uraufgeführt. Das Weihnachtsmärchen wurde heftig kritisiert. Umstritten war, ob das Stück kindergerecht sei. Als das „Mattemärli“ zur Sprache kommt, wird Gioulamis Stimme erstmals schärfer: „Sogar die Journalisten von ‹10 vor 10› suchten nach einem Theaterskandal. Aber sie merkten bald: Es gab eigentlich keinen. Das ist fast schon wieder lustig.“