„Eine Wucht. Eine überwältigende Wort-Oper. Statt Historisches zu evozieren, wirkt die Abstrafung eines Außenseiters durch eine Männerclique wie ein aktuelles Stück von heute. Insgesamt nimmt man von der vom Publikum begeistert gefeierten Inszenierung den Eindruck einer sehr lebendigen, vitalen, absolut heutigen und gegenwärtigen Fassung eines Stücks mit nach Hause, das als moderner Klassiker und Schullektüre von Generationen nur allzu leicht in Gefahr geraten könnte, verstaubt zu wirken.“

2009, Inszenierung am Stadttheater Bern

Text: Max Frisch Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Matthias Heid Bühne: Kirsten Hamm Kostüme: Katharina Meintke Musik: Philipp Ludwig Stangl Fotos: Annette Boutellier

Mit: Henriette Cejpek, Michael Frei, Marcel Gurtner, Gunther Kaindl,  Ingo Ospelt, Andri Schenardi, Marcus Signer, Ernst C. Sigrist, Moritz Stalder, Milva Stark, Heiner Take / Sebastian Edtbauer, Lukas Turtur / Philip Hagmann, Diego Valsecchi, Stefano Wenk

„Hab ich ihn schlecht behandelt? Ich bin nicht schuld, dass es so gekommen ist. Das ist alles, was ich nach Jahr und Tag dazu sagen kann. Ich bin nicht schuld.“

Wo Menschen verschiedenster Kulturen eng beieinander leben, sind unterschwelliger oder gar nicht so unterschwelliger Fremdenhass allgegenwärtig, und doch ist die Wahrheit oft nicht das, was auf den ersten Blick sichtbar ist. Vorurteile sind nach wie vor schlechte Berater, da sie eine im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Eigendynamik entwickeln können. Die Inszenierung geht der Frage nach der Verantwortung des Einzelnen nach und untersucht die Mechanismen einer abgeschotteten (Männer-)Gemeinschaft, die versucht, jede Schuld zu verdrängen.

Grandioses Schauspiel

In den Vidmarhallen hat Antje Thoms „Andorra“ von Max Frisch inszeniert – eine Wucht. Eine überwältigende Wort-Oper. Statt Historisches zu evozieren, wirkt die Abstrafung eines Außenseiters durch eine Männerclique wie ein aktuelles Stück von heute. Sie erinnert fast ein wenig an die Wechselgesänge des mordlüsternen Volks in Bachs Johannes-Passion, die Szene, mit der die Aufführung beginnt und die den Abend strukturell gliedert: „Wir haben uns in dieser Geschichte alle getäuscht – Ich bin nicht schuldig – eine tragische Geschichte, kein Zweifel…“ Die Stimmen verwirren sich bis zur Unverständlichkeit, intendieren bisweilen etwas Magisch-Kultisches und geben dem Abend den Anstrich einer Sprechoper, in welcher der Rhythmus, der Klang, der Wechsel zwischen laut und leise, aber auch die dezent eingesetzte rhythmisierende Backgroundmusik und ab und zu eigentliche Chor- und Chanson-Einlagen dem Inhalt und der Botschaft des Stücks als kraftvoll-eigenständige Dimension gegenüberstehen. Dazu gehört nicht zuletzt das Schreibmaschinengeklapper, das die schlagartig aus der Dunkelheit auftauchenden Szenen unterteilt und den Eindruck erweckt, als werde das, was das Publikum zu sehen bekommt, Passage für Passage eben erst geschrieben. Der an Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ gemahnende Schluss, bei dem die Andorraner selbst zu Mördern werden, ist angesichts der Bedeutung, die Antje Thoms dem Kollektiv der andorranischen Männer zugesteht, nur konsequent und verleiht der Aufführung eine wuchtige innere Geschlossenheit. Grossartiger Andri: Den vermeintlichen Juden Andri spielt der junge Andri Schenardi mit ebenso viel Unmittelbarkeit und Naivität wie Leidenschaft und Engagement. Die schmale, schlaksige Gestalt mit der dunklen Stimme prägt sich einem in Haltung, Körpersprache und Mimik als Inbegriff einer leidenden, unschuldig verfolgten Kreatur so nachhaltig und unvergesslich ein, dass ein Vergleich mit dem leidenden Jesus für einmal nicht zu weit hergeholt erscheint. Insgesamt nimmt man von der vom Publikum am Ende begeistert gefeierten Inszenierung den Eindruck einer sehr lebendigen, vitalen, absolut heutigen und gegenwärtigen Fassung eines Stücks mit nach Hause, das als moderner Klassiker und Schullektüre von Generationen nur allzu leicht in Gefahr geraten könnte, verstaubt zu wirken.

Ein Volk ohne Schuld

Die Inszenierung von Antje Thoms zeigt, dass das Drama über Vorurteile und Fremdenhass heute noch aktuell ist. Immer und immer wieder beteuern die Andorraner ihre Unschuld. Mit vor Schweiss glänzenden Gesichtern sitzen sie am Kneipentisch, und das Beruhigen ihres schlechten Gewissens wird zum Stammtischgespräch. Alle meinten es doch nur gut. Offensichtlich will dieses Volk seine kollektive Schuld nicht anerkennen, es scheint, als ob alle die Misshandlungen des vermeintlichen Juden vergessen haben. Die Bühne von Kirsten Hamm ist eine heruntergekommene Kneipe und die Entscheidung der Regie für diesen Schauplatz ist die konsequente Weiterführung der Verdichtung: Max Frisch sprach nicht den gleichnamigen Kleinstaat an, sondern wählte ihn als Modell. Andri Schenardi besticht in der Hauptrolle mit Präsenz und verkörpert Andri als geduldigen und mutigen Helden, den der Hass von Andorra stolz und hart gemacht hat. Das 1961 erschienene Drama hat an Aktualität nichts eingebüßt, es lassen sich in Thoms‘ Inszenierung Brücken in die Gegenwart schlagen. In der Inszenierung sitzt ein alter Mann auf der Bühne, schaut in stummer Passivität zu und unternimmt nichts gegen die Ungerechtigkeit. Niemand greift ein, während die Andorraner Andri verprügeln und der Tischler über das am Boden kauernde Opfer uriniert. Und während das Trinklied in Parolen ausartet, sieht man sich in der Realität mit dem Jodelchörli Urnäsch am Säntis konfrontiert, das in einem Schnupf-Spruch über „Jugopack“ zetert. Die Inszenierung stellt die Aktualitätsbezüge nicht explizit her, lässt jedoch durch den Fokus auf Frischs Text Assoziationsräume zu.

Gesellschaftliche Mechanismen

Max Frischs Andorra ist ein Lehrstück, es seziert die Mechanismen der Intoleranz, es strotzt vor Pädagogik und in seiner Modellhaftigkeit sträubt es sich auch ein wenig gegen die Bühne. Aus Andorra Theater zu machen und keinen Papiertiger ist nicht so einfach. Antje Thoms wagt in ihrer Inszenierung einen Versuch und greift zu. Die Bewohner von Andorra werden zu einer Prügel schwingenden Meute und nach Andris Tod verstecken sie sich wie kleine schuldbewußte Kinder in Schränken. Stark ist die Inszenierung, wenn sie gesellschaftliche Mechanismen ausstellt, zeigt, wie Hackordnungen durchgesetzt, Gruppendruck aufgebaut, Vorurteile verfestigt werden und wie sich alle in die Ausgrenzung einfinden, um die eigene Angst zu bannen.

Jetzt ist aber genug!

Die bereits vierte Inszenierung der in Göttingen lebenden Antje Thoms besticht durch die enorme Präsenz ihrer Schauspieler. Andri Schendardi gibt seinen Namensvetter mit einer fast schon schmerzhaften Fragilität. Diego Valsecci als cholerischer Soldat, der nie an Misshandlungen teilgenommen haben will, ist in seiner fabelhaft abgebrühten Boshaftigkeit hinreißend. Herausstechend auch die Darbietungen von Lukas Turtur und Marcus Signer, der Andorras Idioten so glaubwürdig verletzlich spielt, dass es wehtut. Auch der Rest der Besetzung überzeugt durch überdurchschnittliche Leistung. Was das Stück mir wieder sehr schön verdeutlicht hat ist die Tatsache, dass Theater ein Live-Erlebnis ist. Wenn die Bewohner von Andorra „Jude!, Jude!, Jude!“ zu murmeln beginnen und schließlich fast schreien läuft es einem kalt den Rücken runter. Wenn die Spannung sich bis zur Unerträglichkeit hochschraubt, wenn die Andorraner den unschuldigen Andri schikanieren und schwer misshandeln spürt man geradezu wie das Publikum den Atem anhält. Mit dem verzweifelten Ausruf einer Zuschauerin „Jetzt ist aber genug!“, entlädt sich die aufgeheizte Stimmung dann schließlich tatsächlich. Was für ein großartiger Theatermoment!