„Wir sind begeistert, wir empfehlen dringend den Besuch einer weiteren Vorstellung. Ein flammendes Plädoyer. Das muss auch mal sein!“

2016, Inszenierung am RLT Neuss

Text: Michael Frayn, übersetzt von Ursula Lyn Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Reinar Ortmann Ausstattung: Britta Lammers Fotos: Björn Hickmann / Stage Picture

Mit: Joachim Berger, Hergard Engert, Philipp Alfons Heitmann, Johanna Freyja Iacono-Sembritzki, Richard Lingscheidt, Juliane Pempelfort, Pablo Guaneme Pinilla, Stefan Schleue, Alina Wolff

„Auftritte, Abgänge. Sardinen rein, Sardinen raus. Das ist Theater. Das ist Farce. Das ist Leben.“

Wenn auf der Bühne schiefgeht was nur schiefgehen kann, man die Souffleuse hört, die Drehbühne quietscht, die Scheinwerfer aus- oder von der Decke fallen und der Vorhang einfach nicht aufgehen will, wird es interessant. Denn hinter der vermeintlich perfekten Fassade lauern das Chaos, der Abgrund, die Katastrophe. Und natürlich ist das alles nur lustig, wenn es anderen passiert. Vor unseren Augen quälen sich Schauspieler*innen heroisch durch eine ganz und gar alberne Farce, in der unter anderem der Angestellte eines Immobilienmaklers, die Steuerfahndung, ein Teller Sardinen, eine Flugtasche und ein arabischer Scheich große, aber undurchsichtige Rollen spielen. Auf der nächtlichen Generalprobe kämpft die Truppe tapfer mit den Tücken des Probenalltags und den Launen des Regisseurs. Nach einigen Abstechern ist zwar die Aufführung eingespielt, doch die Dramen hinter der Bühne nehmen neue Dimensionen an: aus Flirts werden Affären, aus kleinlichen Intrigen handfeste Attacken. Schließlich muss der Regisseur bei der letzten Vorstellung erkennen, dass das, was da beklatscht wird, wenig mit dem zu tun hat, was er einst inszeniert hat. Trotzdem versuchen die Schauspieler bis zuletzt, den Anschein von Normalität zu wahren.

The Show must go on – auch wenn die Kulisse und neben dem Sofa der Kollege zusammenbricht.

Ja, sie alle sind eitel, kleinlich, inkompetent, sie trinken zu viel und achten auf nichts als sich selbst. Und trotzdem sind sie mehr als jämmerliche Witzfiguren in einem miserablen Stück, sie sind Menschen, die versuchen unter widrigsten Bedingungen, etwas, das man schon nicht mehr als Kunst bezeichnen kann, doch noch zu einem Ende zu bringen, das allen Beteiligten ihre Würde lässt. Dass wir wissen, dass diese Würde längst verloren ist, macht den Humor und die Abgründigkeit dieser Komödie aus.

Pathos ist kein griechischer Käse

Treffen sich eine geistersehende Finanzbeamtin, ein Steuerflüchtling, ein Scheich und ein schwerhöriger Einbrecher mit Alkoholproblem in einem Landhaus. So oder so ähnlich könnte ein Witz beginnen, der eine vollkommen abstruse Pointe mit sich zieht, über die am Ende nur diejenigen Lachen, die den wirklich flachen Humor für sich entdeckt haben. Der Leser hat bestimmt schon gemerkt, dass die Zusammenkunft der Figuren auf ein amüsantes Abenteuer hinausläuft. Besonders dann, wenn die Schauspieler die Farce Nackte Tatsachen so spielen, wie dies das Ensemble macht: vollkommen übertrieben, mit brutalem Pathos, übertriebenen Bewegungen und so schrill, wie sonst noch in keiner Inszenierung gesehen. Alles passt zusammen, all das zu sehen macht Spaß, die Lacher werden immer intensiver, manchmal sogar Zwischenapplaus. Es ist kaum in Worte zu fassen, was der Zuschauer alles zu sehen bekommt. Besonders brisant wird es im zweiten Akt. Hier geben sich dynamische und lustige Slapstick-Elemente die Klinke in die Hand mit schnellen Wechseln auf die Bühne und wieder zurück. Besonderes Schmankerl ist das in der Mitte thronende Fenster, unter welchem die Schauspieler beim Seitenwechsel immer vorbeirobben müssen, wenn sie vom imaginären Publikum nicht gesehen werden wollen. Im zweiten Akt haben wir gelernt: Die Harmonie in der Gruppe ist verloren gegangen. Doch müssen die Profis die Tournee zu Ende bringen. Und so sehen wir den ersten Akt ein drittes Mal, jedoch ein drittes Mal wieder ganz anders. Der Vorhang geht auf, die Handlungsabläufe sind bekannt, jedoch ist alles anders. In der Kulisse ist Chaos ausgebrochen. Überall liegt Müll herum. Der dritte Akt ist Anarchie. Nichts läuft mehr, wie es einst geprobt wurde. Jedoch gilt die alte Schauspielregel: Wenn auf der Bühne ein Fehler passiert, mach den Fehler groß. Mach das Publikum glauben, dass es gar keinen Fehler gibt, dass alles dazu gehört. Und trotzdem: Retten kann Nackte Tatsachen hier sicherlich keiner mehr. Und gerade das konnten alle genießen: weil wir wissen, dass es sich um ein „gespieltes“ Stück handelt, uns also keine Sorgen machen müssen, dass wir hier gerade eine echte Misere ansehen müssen. Das erleichtert. Wir können uns zurücklehnen und einfach lachen. Und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf, das waren zweieinhalb Stunden nackter Wahnsinn. Wenn es richtig gespielt wird, ist Frayns Dauerbrenner einfach nur jeden Cent und jede investierte Minute wert. Der nackte Wahnsinn besticht durch seine Dynamik, seine Pointiertheit, seine Präzision und sein Timing. Das Schauspielerteam um Regisseurin Antje Thoms muss für dieses Stück funktionieren. Und zwar wortwörtlich. Wie ein Uhrwerk. Keine Minute des Stückes ist öde. Es gibt immer etwas zu sehen. Hiermit attestieren wir den Schauspielern ebenfalls überzeugende Leistungen im Bereich des physischen Theaters. Die Spieler haben zweieinhalb Stunden mit 110% Energie performt ohne durchzuhängen, um am Ende noch mal 10% mehr zu geben. Wir sind begeistert, wir empfehlen dringend den Besuch einer weiteren Vorstellung. Ein flammendes Plädoyer. Das muss auch mal sein!

Keiner kommt hier lebend raus!

Stopp, halt. Das ist übertrieben. Boulevardesk sozusagen. Aber ungeschoren kommt hier keiner davon. Verletzungen, körperlich, seelisch oder beides, tragen alle davon. Und das Publikum wird spätestens im zweiten Akt, beim Blick hinter die Kulissen, beraubt. Seiner Illusionen nämlich. Was da auf der Bühne abgeht ist vordergründig Boulevard pur, leichte Unterhaltung, gerne mit Tempo. Mit Michael Frayns bekannter Komödie „Der nackte Wahnsinn“ macht das RLT das Theater zum Thema, spielt ein Stück im Stück. Und das eigentlich dreimal. Schon im ersten Teil, vierundzwanzig Stunden vor der Premiere, probt ein Ensemble, das nicht gerade einen harmonischen Eindruck macht, das leichtgewichtige Stück „Nackte Tatsachen“. Nach der Pause gewinnt das Publikum außergewöhnliche Einblicke. Es erlebt die Auftritte und Abgänge der Darsteller aus der Hinterbühnenperspektive. Da wird der Wahnsinn des Boulevards auf der anderen Seite der Kulisse noch getoppt. Das Finale spielt dann Monate später beim letzten Gastspiel einer langen Tournee. Zum Teil mit blutgetränkten Verbänden an den geschundenen Leibern. Irgendwie erinnert die Truppe, die ihren Karren offenbar vor die Wand gefahren hat, an einen Betrunkenen, der seinen Zustand krampfhaft zu verbergen sucht. Um sich ein bisschen Würde zu bewahren. Was die ganze Sache natürlich nicht besser macht. Die verschiedenen Ebenen der Farce lassen viel Spielraum für Interpretationen, die man bis zur Kulturkritik hochjazzen kann. Je einfacher die Unterhaltung, die sogar schlecht gemacht sein kann, desto mehr klopft sich das Publikum vor Vergnügen auf die Schenkel. Ob das wirklich so ist? Das Publikum dankte mit langanhaltemden Beifall.

Was für ein furioser Auftakt

Selten wird man als Zuschauer im Theater so direkt mitten ins Geschehen geworfen, wie das bei der Komödie „Der nackte Wahnsinn“ der Fall ist. Eine vierte Wand zu durchbrechen gibt es nicht – sie ist dauergeöffnet. Der gelungene dramaturgische Kunstgriff sorgt dafür, dass die Zuschauer sprichwörtlich mittendrin sind. Immer mehr ziehen Wahnsinn und Chaos ein. Als der erste Akt mit einem wahren Urschrei endet und der Regisseur „Vorhang!“ brüllt, passt es perfekt, dass die Regieassistentin zaghaft antwortet: „Vorhang? Haben wir nicht.“ Regisseurin Antje Thoms hat den Stoff auf eine neonfarben-glitzernde 80er-Jahre-Ebene gehievt. Frederick Fellowes, im ballonseidenen Trainingsanzug und mit blondierten Haaren, wirkt wie einem Fitness-Video von Olivia Newton-John entsprungen. Oder Belinda Blair in ihrem knallroten Kleid, die wie „Die Frau in Rot“ im gleichnamigen Film rüberkommt. Daneben stellt sich das Auftreten für die Schauspieler als echte Schwerstarbeit heraus. Stellenweise, und das ist der einzige Kritikpunkt an der durchgehend großartigen Darbietung, wird auf der Bühne derart viel durcheinandergeredet, dass es nicht ganz einfach ist, den Überblick zu bewahren. Da hilft ein Satz von Regisseur Lloyd zumindest kurzfristig weiter: „Wir konzentrieren uns jetzt auf die Türen und die Sardinen. Auftritte, Abgänge, Sardinen rein, Sardinen raus. Das ist Theater. Das ist Leben.“ Und das ist vor allem ein wirklich großartiger Spaß für alle im Publikum.

Der Titel könnte nicht besser passen

Die RLT-Inszenierung von Antje Thoms ist wirklich „Der nackte Wahnsinn“. Frederick muss natürlich auch die Pause nutzen, um auf der Bühne herumzuwuseln. Mit der Regieassistentin reden, da an einem Requisit zupfen, dort noch einmal den Weg abgehen. Seine Rolle als Philipp Brent in der Komödie „Nackte Tatsachen“ verlangt ihm einiges ab, und er hat mehr als einmal sein Problem mit den Abläufen zugegeben. Ein Spiel im Spiel im Spiel ist diese Szene, an der nur die Pause im RLT echt ist. Das Publikum ist draußen im Foyer, die Bühne aber bleibt Bühne, und die RLT-Darsteller bleiben Schauspieler, die Schauspieler spielen, die ein Stück spielen. Dass Stefan Schleue so gut so schlecht spielen kann! Und Philipp Alfons Heitmann auch. Und Hergard Engert, und Johanna Freya Iacono-Sembritzki, und Juliane Pempelfort. Und Joachim Berger erst!

RLT begeistert mit Stück im Stück

Es war ein Haufen dilettantischer und höchst unprofessioneller Schauspieler, die zu bewundern waren. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich war es ein Haufen ganz entzückender Schauspieler, die einen Haufen dilettantischer und höchst unprofessioneller Schauspieler mimten. Als Schauspieler andere Schauspieler zu spielen, die wiederum zumindest einen gewissen Grad an Unprofessionalität an den Tag legen, ist sicher nicht einfach. Umso erfreulicher war es, mit welcher Leichtigkeit dies umgesetzt wurde, weshalb hier ein kurzweiliger, hochwertiger Spaß empfohlen werden kann.

Top oder Flop?

Geteilte Reaktionen in Geldern auf Stück des RLT Neuss: Genau dieses „mittendrin statt nur dabei“- Gefühl war bei vielen Zuschauern der Anfang der Irritation. Denn es gab keine klassische Dramaturgie, kein „normales Theaterstück“. Es war ein exzellent gespieltes und konsequent fantastisch choreographiertes Stück, welches das Gesamterlebnis über alles setzte.

 

Viel Charme

Über zweieinhalb Stunden bringen die Schauspieler das Publikum mit irren Szenen zum Lachen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die absurde, unterhaltsame, turbulente, witzige und völlig überraschende Boulevard-Komödie gut ankam.

 

Ironie, schwarzer Humor und Aberwitz

Bei „Der nackte Wahnsinn“ funktioniert nicht viel. Aber genau das ist Inhalt des Stücks. Turbulenzen und Verwechslungen sorgen für einen heiteren Theaterabend. Ironie, schwarzer Humor und Aberwitz sind eine Mischung, die beim Publikum ankommen, das in diesem Stück mitten im Geschehen drinsitzt. Nicht müde wird das neunköpfige Neusser Ensemble. Spritzig, temperamentvoll und mit großer Spielfreude schlüpfen sie in die Charaktere.