„Das ist bissig, mutig, frisch und voller lokaler Bezüge. Shakespeare und sein gleichnamiges Festival in allen Ehren, doch dieser lokal umgedeutete Klassiker hat wirklich Relevanz.“

2015, Inszenierung am RLT Neuss

Text: Nikolai Gogol, übersetzt von Steffen Mensching Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Reinar Ortmann Ausstattung: Antje Thoms und Katharina Meintke Fotos: Björn Hickmann / Stage Picture

Mit: Hergard Engert, Michael Großschädl, Philipp Alfons Heitmann, Michael Meichßner, Pablo Guaneme Pinilla, Linda Riebau, Rainer Scharenberg, Andreas Spaniol, Henning Strübbe, Georg Strohbach, Johann Schiefer

„Der Mensch ist simpel konstruiert.“

„Leben und Leben lassen“ könnte das Motto der kleinstädtischen Führungsriege im REVISOR sein. Wobei sich das „Leben lassen“ selbstverständlich nur aufs eigene Leben bezieht: da wird bestochen, betrogen, gedealt und geklüngelt was das Zeug hält. Kleine Geschenke unter Freunden? Selbstverständlich. Eine Hand wäscht schließlich die andere. Erpicht auf den eigenen Vorteil, besorgt um Status, Macht und Anerkennung, buckelnd nach oben und nach unten tretend, ist hier jeder mit jedem so eng verstrickt, dass die Leichen im Keller gar nicht mehr auffallen. Doch der zufällige Besuch eines dahergelaufenen Hochstaplers reicht aus, dieses komplexe System zu Fall zu bringen.

Vor den Augen des „kleinen Mannes“ lässt die politische Elite ganz freiwillig langsam ihre Hosen runter und entlarvt sich selbst.

Doch es sind nicht die großen Betrüger, die Gogol im REVISOR aufs Korn nimmt, es sind die „kleinen Lichter“: nicht kalt und gerissen, sondern zutiefst menschlich. Bangend um ihre Karrieren, ängstlich den Skandal erwartend, sich immer wieder verheddernd in gesellschaftlichen Ansprüchen und privaten Sehnsüchten. Sie alle wären so gerne ganz groß, ganz mächtig, ganz bedeutend – und sitzen am Ende der rasanten Verwechslungskomödie doch nur vor dem Scherbenhaufen, der ihr Leben ist.

Temporeiche Groteske

So viel Unruhe ist selten zu Beginn eines Theaterstücks. Das übliche Ritual der Platzsuche wird von zudringlichen Menschen gestört, die einem auch noch ein Mikro unter die Nase halten. Ob man vielleicht einen Wunsch formulieren möchte an den Bürgermeister, der doch gleich eine Rede hält? Wie bitte? Wir sind doch im Theater, wollen die Premiere von Nikolai Gogols Stück „Der Revisor“ sehen und nicht eine Rede des Bürgermeisters hören! Und warum, bitte schön, drückt einem ein Dr. Filip Filipowitsch Flyer zur „Neuen Germanischen Medizin“ in die Hand? Gemach, würde Horst Schlämmer sagen. Wir sind nämlich schon mittendrin im Stück, noch bevor es überhaupt richtig angefangen hat. Regisseurin Antje Thoms hat die fast 200 Jahre alte Komödie Gogols kräftig durchgeschüttelt, sie ins Neuss von heute geholt, ohne jedoch allzu eindeutig zu werden. Es gibt jede Menge Anspielungen auf Neusser Befindlichkeiten, aber nichts wirkt aufgesetzt oder platt, sondern fügt sich passgenau ins Original ein. Die Figuren sind ganz und gar heutig, der Inhalt wird kongenial in sprechenden Bildern umgesetzt. Jeder stolpert über seine eigenen Sünden, und Thoms zimmert daraus eine Farce, die es in sich hat. Temporeich und mit vielen witzigen Einfällen, auch ohne Scheu vor Klamauk, der aber immer wieder rechtzeitig gestutzt wird, bevor er nerven kann. Unzählige kleine Gesten wie der kurze misstrauische Blick ins Publikum bei der Frage, wer der Verräter sei, Running Gags wie die lustlos-görenhaft auftretende Bürgermeister-Tochter Mascha, Neu-Zeichnungen der Figuren wie bei Bobtschinski und Dobtschinski und Erfindungen wie der tölpelhafte Fahnenschwenker machen aus dem Stück eine Groteske mit großer Wirkung. Der beherzte und sinnvoll straffende Zugriff von Thoms auf Text und Personal, das wunderbar passende Bühnenbild mit Reminiszenz an den Stadthallen-Charme der 1960er Jahre wäre jedoch alles nichts ohne die hervorragenden Schauspieler. Allen voran Philipp Alfons Heitmann, der als Bürgermeister punktgenau die ganze Gefühlsskala von Louis-de-Funès-Gebaren bis zu abgrundtiefer, stiller Verzweiflung beherrscht. Henning Strübbes Chlestakow ist kein gerissener Schlawiner wie noch bei Gogol, sondern ein kleiner Sadist, der sich an den Ängsten der anderen weidet. Und das Duo Michael Meichßner als Bobtschinski und Georg Strohbach als Dobtschinski agiert eingespielt wie einst Stan Laurel und Oliver Hardy. Großer Beifall. Zu Recht.

Wirklich relevant

Das ist bissig, mutig, frisch und voller lokaler Bezüge. Shakespeare und sein gleichnamiges Festival in allen Ehren, doch dieser lokal umgedeutete Klassiker von Nikolai Gogol hat wirklich Relevanz. Fast so, wie das freie Theater am Schlachthof in seiner rebellischen Phase, damals, als sich die Kultur-Anarchisten noch etwas trauten.

Mitten im heutigen Neuss

Frech, witzig und schön schräg hat Antje Thoms die rund 200 Jahre alte Komödie „Der Revisor“ von Nikolai Gogol in Szene gesetzt. Sie holt das Geschehen in die Jetztzeit – mitten ins heutige Neuss und baut auch sehr geschickt und gar nicht aufgesetzt Neusser Eigenarten und Befindlichkeiten ein. Das Ensemble hat sichtbar Spaß an ihrer Lesart – ein ebenso vergnügliches wie auch nachdenkenswertes Erlebnis.