„Der Anfang vom Ende zum ewig scheiternden Neuanfang – Antje Thoms inszeniert ihn – frisch, frech, fröhlich – als Tanz um halbe Wahrheiten und geteilte Lügen ins Treppenhaus der Cumberlandschen Galerie hinein.“

2003, Deutsche Erstaufführung am schauspielhannover

Text: Oscar van den Boogard, übersetzt von Ira Wilhelm Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Viola Hasselberg Ausstattung: Isabelle Krötsch

Mit: Martina Struppek und Wilhelm Schlotterer

„Erinnerst du dich noch an die Mondfinsternis, die du nicht sehen wolltest, und ich schon? Wie oft kommt so was vor, so ein kosmisches Phänomen, du wolltest fernsehen und ich stand alleine draußen.“

Urplötzlich steht „der Mann“ wieder im Wohnzimmer und im Leben „der Frau“. Ist er jemals fort gewesen? Ist ihre Beziehung überhaupt vorbei? Die Frau probiert Dutzende von Kostümvarianten, um ihm zu gefallen. Er sieht sie nicht mal an, besticht sie aber dennoch mit einem Kompliment: „Du siehst großartig aus“. Ein geheimnisvolles Band kettet die beiden aneinander und verhindert, dass sie den aussichtslosen Kampf umeinander vorzeitig abbrechen. Die Frau ist Schauspielerin, jetzt dreht sie auf. Der Mann lässt sie spielen und zieht seine Trümpfe. Sie trinken sich haltlos durch einen Film.

Tanz um halbe Wahrheiten und geteilte Lügen

Mit „Lucia schmilzt“ beweist das Schauspiel Hannover Oscar van den Boogards Bühnentauglichkeit. Der Anfang vom Ende zum ewig scheiternden Neuanfang – Antje Thoms inszeniert ihn – frisch, frech, fröhlich – als Tanz um halbe Wahrheiten und geteilte Lügen ins Treppenhaus der Cumberlandschen Galerie hinein. All diese Szenen sind einfach rührend wahr. Auch ästhetisch bieten die verdichteten Dialog-Collagen viele Möglichkeiten rollenspielerischer Wahrheitsfindung, die von der Regisseurin genutzt werden. Ihre Darsteller Martina Struppek und Wilhelm Schlotterer dürfen sich als irgendwie 40-jährige Schauspieler selbst darstellen. Hinreißend, wenn „Frau“ Struppek im rasenden Wechsel ihre Aufmachung und die Musikzuspielung wechselt.

Von erstaunlicher Leichtigkeit

„Lucia schmilzt“ ist ein Endspiel der Liebe, ein Stück über die Unmöglichkeit, zusammen zu sein, auch wenn man zusammen gehört, über die Tragik des Alterns und über die Frage, ob das immer die richtigen Entscheidungen waren in diesem einen Leben, das womöglich viel zu kurz ist für nur die eine Liebe. Die Szenen einer nicht zustande gekommenen Ehe sind von erstaunlicher Leichtigkeit. Das einzig Ausgefallene ist, dass es sich bei dem Paar um zwei Schauspieler handelt. Martina Struppek und Wilhelm Schlotterer spielen sie, und manchmal dürfen sie aufdrehen und das Schauspielern von Schauspielern schauspielern. Das ist sehr witzig. Meistens aber ist es anrührend. Antje Thoms hat das Stück ohne große Regiemätzchen, aber nicht einfallslos inszeniert – dem Text und den Schauspielern dienend.   Eine schöne Kleinigkeit ist dabei herausgekommen, die gut in das Treppenhaus der Cumberlandschen Galerie passt. Solche wundersamen Stücke sind dort viel zu selten zu sehen.

Phrasen als Herzenssätze kostümiert

Wo Rituale als gefälscht gezeigt werden, Aufrichtigkeit als Rolle entlarvt, übergestülpt wie das halbe Dutzend Outfits, das die Frau durchprobiert, hat das Stück seine stärksten Momente. Phrasen als Herzenssätze kostümiert, Selbstlügen als Offenbarung: Martina Struppek und Wilhelm Schlotterer spielen souverän Posen und Brüche durch. Sie winden und wenden sich und hängen selbstverliebt vor der Selbstbespiegelung durch den Partner fest.

Stilsicher mit flotter Nadel gestrickt

Der Spielort steht für hautnahes Theatererlebnis. Das Publikum ist fast auf Tuchfühlung mit dem Paar, das hier zwischen Designerliege, Kühlschrank und Mini-Aquarium mit echtem Fisch herumeiert. Sich gegenseitig ständig versichert, dass die einst vollzogene Trennung das Beste gewesen ist. Und schließlich miteinander schläft. Das ist in der Regie von Antje Thoms stilsicher mit flotter Nadel gestrickt. Verfremdungseffekte gibt es nur spärlich, etwa wenn das Licht geisterhaft grün wird und die beiden Figuren unvermittelt so überzogen daherquatschen, als befänden sie sich in einer viertklassigen Soap. Vor allem Martina Struppek legt derart los, dass man sich fragt, warum das Staatsschauspiel diese Frau nicht öfter mit großen Rollen bedenkt. Unterm Strich ein Abend ohne Langeweile und mit einer Prise Nachdenklichkeit, der lange beklatscht wird und seine Krönung erfährt, als beim Verbeugungsmarathon die Klinke der hinteren Abgangstür abbricht und Intendant Wilfried Schulz höchstselbst sich als Schlosser betätigt.