„Es kommt einem die Misere der Virilität als Sache des Herzens und anderer Organe beunruhigend nah: buchstäblich in Ospelts und Müllers intensivem Spiel. Und es schmerzen das komische Weh und das ernste Ach der sprachscharfen Jeremiaden eine noch nicht verhärtete Zuschauerseele.“

2014, Uraufführung von Trainingslager

Konzept und Idee: Antje Thoms und Ivna Žic Text: Ivna Žic Regie: Antje Thoms und Ivna Žic Dramaturgische Mitarbeit: Andrea Schmid Produktion: Gabi Bernetta Fotos: Judith Schlosser Mit: Dominique Müller, Ingo Ospelt

Koproduktion mit Theater Winkelwiese Zürich, Kellertheater Winterthur Gefördert durch Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Pro Helvetia, Migros Kulturprozent, Migros Genossenschaftsbund Zürich, Jürg Georg Bürki-Stiftung, Ernst Göhner Stiftung, Schweizerische Interpretenstiftung

„Wie erzählt man sich und einem Gegenüber kurz vor Ende das Leben? Wie erzählt man es gegen die Zeit und ein letztes Mal?“

 

Ein Mann erinnert sich. An das Haus seiner Kindheit, etwas schäbig, aber geräumig. An seine erste Zigarette, an das Schlagzeug, das er zum 16. Geburtstag bekam. Und an einen Freitag vor sieben Jahren, an dem SIE ihm zum ersten Mal begegnet ist. Jetzt ist er allein. Er schläft. Er isst. Vor allem trinkt er. Versucht, sie zu vergessen, und kann doch der Erinnerung an das Leben mit ihr nicht entkommen: Wie sie sich morgens die Haare zusammenbindet, wie sie in der Küche steht, Tee und Kaffee macht, während die Eier schon kochen und sie den Apfel klein schneidet. Wie sie immer alles gleichzeitig macht.

Ein Mann erinnert sich. An das Haus seiner Kindheit, etwas schäbig, aber geräumig. An seine erste Zigarette, daran, dass er sich mit fünf Jahren zum Geburtstag von der Mutter Tulpen gewünscht hat. Er ist lange nicht mehr bei der Mutter gewesen, doch im Herbst kam er zurück, um sie zu pflegen. In dieser Zeit hat sie begonnen, über ihr Leben zu sprechen. Früher, in schwierigen Lebenssituationen, hätte er viele Fragen gehabt, über ihre Beziehungen, ihr Verhältnis zu Männern. Doch damals hat sie nur gekocht und geschwiegen. Auch kurz vor dem Ende hat sie ihm vielleicht nicht alles gesagt, hat Dinge zurechtgerückt oder erfunden, denkt er. Und ahnt, dass irgendwo zwischen dem Erzählten und den Tatsachen, die ohne Worte bleiben, das Leben liegt.

Der elende Jammer der Männer

Sehr, sehr verkürzt gesagt, ist das 2-Personen-Stück „Ohne Antoinette“ von Ivna Zic das Stück einer jungen Frau, die sich die Männer äußerst genau angeschaut hat und mit Schauder und Schrecken oder Furcht und Mitleid gedacht haben muss: Oh, Mann! Denn was sich ihr zu zwei Monologen und einem Dialog des namenlosen männlichen Elends zusammengesetzt hat, das sind: Melancholie und Würstchenhaftigkeit, egozentrische Selbsterfindung und jammerselige Selbstanklage, wehleidig ratternde Erinnerung und geradezu artistisch genossener Schmerz. Auch die vernünftige Erkenntnis, dass nicht mehr die Hebamme dran schuld ist, wenn man einmal unzufrieden stirbt vor lauter verpassten Gelegenheiten. Und alles kreist um das eine Zentrum: die Frau, an der so ein Mann erst recht hängt, wenn er sie nicht mehr hat. Es kann die Mutter sein, die man begräbt, oder die Geliebte, die einen nicht mehr liebt, vielleicht werden beide eins in einem leidenden Männerverstand, und möglicherweise heißt diese Erfindung Antoinette. Zwei solche Leidende und Schmerzgenießer lernt man nun ein wenig kennen in der Winkelwiese, den einen zunächst – man hat da die freie Wahl des dramatischen Anfangs – in Saal und Garten des Theaters, den zweiten dann im Büro und beide zusammen in der Bar, dem natürlichen Habitat des einsamen Miteinanders. Die Inszenierung passt den engen Räumlichkeiten sozusagen wie angegossen. Es kommt einem die Misere der Virilität als Sache des Herzens und anderer Organe beunruhigend nah: buchstäblich in Ospelts und Müllers intensivem Spiel. Und es schmerzen das komische Weh und das ernste Ach der sprachscharfen Jeremiaden eine noch nicht verhärtete Zuschauerseele (über die Seele von Zuschauerinnen urteilen wir nicht). Vor allem in dem traurigen Augenblick, in dem zwei Männer der Männlichkeit Tiernamen geben. Der eine trägt den rosafarbenen Pullover seiner Mutter, und es fallen ihnen der Elefant ein und der Hai und der Narwal, aber der gerührte Zuschauer weiß: Es passt eigentlich nur die Nacktschnecke.

Ertappt!

Anders als sonst kann man sich an diesem Theaterabend nicht in der Anonymität des halbdunklen Zuschauerraums verkriechen. „Sind Sie müde?“, fragt mich der Schauspieler aus einer Entfernung von vielleicht anderthalb Metern. Als ich die Frage wahrheitsgemäss bejahe, kommt postwendend die wenig schmeichelhafte Replik: „Das sieht man.“ In „Ohne Antoinette“, dem ersten Gemeinschaftsprojekt der Autorin Ivna Žic und der Zürcher Gruppe Trainingslager, das am Samstag uraufgeführt worden ist, ist das Publikum mittendrin im Geschehen. Die Zuschauer werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Hälfte erlebt zuerst im Theatersaal einen nervösen, ja fahrigen Ingo Ospelt, der die Leute im Haus seiner soeben verstorbenen Mutter begrüßt. Der von Ospelt bravourös gespielte Mann im altrosa Strickpullover über der wattierten Jacke – ein höchst merkwürdiger Anblick! – wird von seiner Vergangenheit eingeholt. Dominique Müller wartet später im Theaterbüro auf die Publikumsgruppe aus dem Saal. Auch der von ihm verkörperte Mann muss sich mit einem Verlust auseinandersetzen. Dieser Mann reagiert jedoch selbstbewusster, cooler – und kommt doch auch nicht darum herum, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Als er, etwas trotzig, in seinen Erinnerungen wühlt, tauchen immer wieder bekannte Episoden auf. Da stellt sich plötzlich bei den Zuschauern die Frage: Handelt es sich bei den zwei Männern um ein und dieselbe Person, einmal jünger, einmal älter? Am Ende dieser raffiniert konstruierten Theaterproduktion, treffen die beiden Männer in der Theaterbar aufeinander, nun vor dem gesamten Publikum. Sie tanzen, lachen und weinen zusammen; dann ist Schluss.

Ein Gefangener seiner Erinnerung

Das Publikum teilt sich auf. Die eine Hälfte findet sich auf der Bühne, die andere im Büro des Kellertheaters. Beide Hälften treffen auf den gleichen Mann, einmal ist er jung, einmal alt, einmal hat ihn die Freundin verlassen, einmal, Jahre später, ist seine Mutter gestorben. Ivna Žic erzählt die Geschichte dieses Mannes. Hautnah bringt sie ihn in Kontakt zum Publikum, das auf der Bühne als Trauergemeinde am Geschehen teilnimmt. Ingo Ospelt erinnert sich an die Verstorbene, dieser Lust und Qual kann er sich nicht entziehen. Der Schauspieler bringt die Ambivalenz der Gefühle eindringlich zur Geltung. Im Büro übernimmt Dominique Müller den Part. Seine Freundin hat ihn verlassen, die Erinnerung an diese Frau treibt ihn an, auch hier in engem Kontakt zum Publikum. Einzelne Sätze fallen wortgleich wie auf der Bühne, der Mann erzählt den gleichen makabren Witz. Ist er dort eine gebrochene Existenz, schwankt er hier zwischen Coolness und Trennungsschmerz. Auch Dominique Müller spielt seinen Part hervorragend. Schließlich treffen sich die beiden in der Bar, hängen am Tresen, trinken Whiskey, summen oder grölen das gleiche Lied, drehen sich den Rücken zu, umarmen sich, schlagen sich, küssen sich. Beide Teile dieses Mannes sind Gefangene der gleichen Erinnerungen, sie sind Zerriebene ihrer Geschichte, kommen nicht los davon, hadern oder arrangieren sich damit. Dass der Text bisweilen etwas rätselhaft wirkt, machen die beiden Schauspieler vergessen. Das Publikum bedankte sich mit starkem Applaus.

Was macht eigentlich das gelebte Leben aus?

Die Geschichten, die wir uns selbst darüber erzählen? Der Schmerz einer Trennung, der Verlust eines Elternteils oder die Erinnerung an alles Erlebte? In ihrem neuen Stück „Ohne Antoinette“ geht die junge Autorin Ivna Zic in Gestalt von zwei Männern einer abwesenden Frau nach. Ein bärtiger Mann in Pantoffeln und Daunenjacke sitzt auf den blanken Tribünenbrettern. Das Publikum ihm zu Füssen. Keine Stühle, kein Bühnenbild – so beginnt der Rundgang durch ein Menschenleben. Zuerst sind wir in einer heruntergekommenen Villa, hier ist die Mutter dieses Mannes gestorben. Er hat sie gepflegt und nun versucht er, sich an sie zu erinnern. Diese Mutter war und bleibt vor allem eines: ein großes Rätsel. Und so kommt der Mann über ihre Hinterlassenschaft aus Kleidungsstücken, Briefen und Gegenständen regelrecht in die Krise. Ist unser Leben das, was wir davon so lange erzählen, bis wir es selbst glauben? Was bleibt vom Leben übrig, wenn wir sterben? Auf diesen gedanklichen Ausflug zu den letzten großen Fragen folgt das Publikum dem Mann. Es folgt ihm auch in den Garten, wo es kalt ist und die Einsichten klirren vor Einfachheit. Zurück im Theater geht das Publikum ins Büro der Direktion. Hier sitzt ein anderer Mann, er ist jünger, ebenfalls bärtig und ebenfalls mit einer abwesenden Frau beschäftigt. Sie hat ihn verlassen, darüber kommt er nicht hinweg. Im dritten Teil des Abends schließlich begegnen sich die beiden Männer am Bartresen im Foyer des Theaters. Sie trinken und rauchen, erkennen sich und sich ineinander wieder. Der eine scheint der Gegenpart des anderen zu sein oder ist es ein und derselbe Mann? Das bleibt offen. Sicher ist, dass sie vereint sind in ihrer Verlassenheit. Der eine trauert um seine Mutter, der andere um seine Geliebte. Antoinette, die große Abwesende, ist wie eine Marionetten-Spielerin, an ihren Fäden zappeln zwei Männer, die sich in Erinnerungen, in Emotionen und vor allem in Eitelkeiten verheddern. Der Rundgang durch das Theater ist eine interessante Ausgangslage, zumal das Publikum ganz dicht an den Spielern dran ist. Es könnte jederzeit eingreifen und auf die vielen Fragen antworten, vielleicht sogar widersprechen. Das tun die Zuschauer natürlich nicht. Das Thema, bei wem die Autorenschaft über das Leben liegt, ist unbestritten vielversprechend.

Intime Nähe

Den beiden Schauspielern zuzusehen ist eine helle Freude. Sie geben ihren jeweils eigenen Ausprägungen von Seelenschmerz je eine in sich stimmige und sehr deutliche Lesart. Die intime Nähe zum Spiel kann einem über den jeweils trefflichen Ausdruck von Selbstmitleid – bis hin zur schieren Aggression – über das Physische hinaus nahe gehen. Das Zusammentreffen der beiden an einer x-beliebigen Bar atmet eine gänzlich andere Tonalität. Hier sind sie sich im Schmerz Fraternisierende, einander im Elend zugeneigt. Sie trinken denselben Schnaps, haben noch immer beide denselben (schlechten) Lieblingswitz und bleiben in ihrer jeweiligen Art doch das Gegensatzpaar von intro- und extrovertiert. Das ist als Inszenierung und im Spiel raffiniert und kurzweilig.

Ein ungewöhnliches Werk

Das sich nicht scheut, Fragen zu stellen. OHNE ANTOINETTE ist kein Stück, das man sich ansieht, aus dem man herausläuft und das man wieder vergisst. Der Zuschauer denkt weiter.