„Mit Lola Arias Revolver-Trilogie hat das Berner Stadttheater am Dienstag ein Spitzenstück zur deutschsprachigen Uraufführung gebracht. Antje Thoms hat es mit übersprudelndem Einfallsreichtum inszeniert.“

2008, Deutschsprachige Erstaufführung am Stadttheater Bern

Text: Lola Arias, übersetzt von Margit Schmohl Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Matthias Heid Ausstattung: Romy Springsguth Fotos: Annette Boutellier

Mit: Henriette Cejpek, Sebastian Edtbauer, Michael Frei, Sabine Martin, Ella Sägesser, Andri Schenardi, Milva Stark, Stefano Wenk

„Ich kann es nicht leiden, wenn man mich fragt, warum ich weine. Wenn es dich sehr stört, gehe ich eben woandershin weinen.“

 

In einem Leben wie aus einem düsteren Traum schlafen Männer und Frauen mit dem Revolver unter dem Kissen: Während ein Baby in die Nacht schreit, ficht ein Ex-Paar sein letztes Telefonduell: Ein elfjähriges Mädchen ist Moderatorin eines außergewöhnlichen Wettkampfs der unglücklichen Liebe verliebter Selbstmordkandidaten beim Russischen Roulette.

Der Heckenschütze schießt aus dem Hinterhalt: Wie die Liebe das Leben bedroht, ist das Thema der Trilogie der argentinischen Autorin, die – mal mit absurdem Humor, mal mit leidenschaftlicher Melancholie – zärtliche Geschichten von Träumen, Todessehnsucht, Liebeswahn schreibt, düster, phantastisch und pointiert.

Wunderliche Theaterwelt voller Witz und entwaffnender Selbstironie

Tja – die Liebe. Was ist sie denn nun eigentlich? Ein Unfall? Eine Wolke? Ein Striptease? Ein Heckenschütze? Oder ein Boxkampf in Zeitlupe? An Assoziationen fehlt es nicht in der wunderlichen Theaterwelt von „Shootingstar“ Lola Arias. In drei Kurzstücken zeigt die argentinische Autorin eine bunte Schar von Versehrten im Gewirr der Gefühle und Hoffnungen. Die Schweizer Erstaufführung in der Vidmar:2 gibt sich opulenter als die Uraufführung. Bereits im ersten Stück wird die intime Szenerie aufgebrochen: Antje Thoms verteilt den Dialog auf drei parallele Paare, die bei Kerzenlicht kettenrauchend in die Nacht blicken. Schauspielerisch überzeugend präsentieren sich Stefano Wenk und Henriette Cejpek als einsame Expartner im prekären Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz im zweiten Stück. Doch ganz ernst nehmen kann man sie nicht: Die angeklebten Mikrofone auf der Brust wirken ebenso grotesk wie die Kommentare der elfjährigen Ella Sägesser, die das Publikum darüber aufklärt, was das Baby im Hintergrund gerade tut. Vollends überdreht zeigt sich das Ensemble im Schlussstück, passend zur skurrilen Szenerie. Wie wild gewordene Zombies bringen die Akteure den Showdown der Selbstmordkandidaten auf die Bühne – als absurd pathetischen Bekenntnisreigen inklusive Wettweinen und der Präsentation aller möglichen Selbstmordarten. Das ist voller Witz und entwaffnender Selbstironie.

Ein Drama, wie geschaffen für die Krise

Es spielt „In der Zukunft“, in einem Quartier, in dem es weder Strom noch Trinkwasser gibt. Kerzen erhellen die Bühne und den darüberliegenden Balkon spärlich, in Blumenkistchen gedeihen nur noch Kakteen, neben einem ausgestopften Eber steht ein verbeulter Autoscooter – warum, wird man nie erfahren. Michael Frei im billigen Alleinunterhalter-Outfit begleitet die Trostlosigkeit auf einem scheppernden Keybord mit melancholischen Songs. In diesen scheinbar letzten Tagen der Menschheit haben die Leute nur noch ein Thema: die Nichtexistenz der Liebe. Im ersten Teil hat Thoms die beiden Hauptpersonen geklont – statt einem stehen drei sich nur äußerlich ähnelnde Paare auf dem Balkon. Das Verfahren erlaubt, verschiedene Facetten möglicher Liebe zu zeigen: Erotik, Freundschaft und Routine. Im zweiten Teil telefoniert der Mann aus dem ersten Akt mit der Frau, die ihn verlassen hat. Stefano Wenk und Henriette Cejpek lassen hier das Gespräch wirklich meisterhaft zwischen intimer Vertrautheit und traumlogischer Absurdität oszillieren. Vollkommen bizarr wirds im letzten Teil: Die sechs Personen vom Anfang tauchen karikiert wieder auf, unter anderem als Stripperin und Don Juan. Sie sind gleichsam Kasperle-Figuren, mit denen ein rothaariges Mädchen Russisches Roulette spielt. Bevor sie versuchen dürfen, sich zu erschießen, müssen sie ihren Lebensüberdruss erläutern und einen letzten Wunsch äußern. Mit Lola Arias‘ „Revolver“-Trilogie hat das Berner Stadttheater am Dienstag ein Spitzenstück zur deutschsprachigen Uraufführung gebracht. Antje Thoms hat es mit übersprudelndem Einfallsreichtum inszeniert.

Geisterstunde mit Liebesversehrten

In Bern inszeniert die deutsche Regisseurin Antje Thoms – zuletzt für Dagny Gioulamis polarisierendes „Mattemärli“ engagiert – die (wach)-traumnahen Szenenfolgen. Wirkungsvoll ist der erste Teil, Thoms vertraut für diesen Auftakt dem auf mehrere Paare verteilten Text und lässt die Mitwirkenden auf der Galerie der kleineren Vidmar-Halle dezent inszenierte Position(en) beziehen, ohne dadurch die kammerspielartige Vorgabe der Vorlage zu strapazieren. Verbale Ausweglosigkeit durchwirkt ebenso prägend das Geschehen im Mittelstück, unter Thoms‘ Regie haucht das Paar auf Distanz in mit Klebeband am Körper befestigte Mikrofone und sagt einander schließlich „Ciao“. Mit dieser textbewussten Unaufgeregtheit und Zurückhaltung ist es im Finale „Die Liebe ist ein Heckenschütze“ vorbei. Wo Arias sechs Liebesversehrte vom Typ Schüchterner, Cowgirl, Stripperin, Schönheit (mit Tüte über dem Kopf), Boxer und Don Juan im Beisein einer 11-jährigen Schiedsrichterin samt Soundtrack (Musik: Michael Frei) zum Russischen Roulette antreten lässt, gibt es für Thoms offenkundig kein Halten mehr. Zwischen Putschauto und Plastikwildsau entfaltet sich ein irgendwo zwischen Geisterbahn und Kuriositätenkabinett entlehntes Treiben.

Jahrmarkttrubel

Wenn zu guter Letzt die ausgestopfte Wildsau auf der Bühne einen Salto mortale hinlegen würde, das Putschauto enterte und mit Blaulicht davonraste, so würde das einen nicht weiter verwundern. Die sechs Schauspieler und Schauspielerinnen werden nonstop angehalten sich aufzuführen, als gälte es, eine drittklassige Broadway-Truppe zu persiflieren. Dem Treiben widersetzt sich nur die Organisatorin des russischen Roulettes, ein kleines rothaariges Mädchen, gespielt von einer Elfjährigen, der es mit ihrem fast trotzigen Ernst stellenweise gelingt, zu Lola Airas’ Text vorzudringen. “Liebe ist ein Striptease”, sagt die Stripperin einmal, die sich auch nach der einzigen Kugel im Revolver sehnt. “Aber du ziehst nicht nur die Kleider aus, sondern du reisst dir auch die Organe aus dem Leib, das Herz, das Gehirn, der Magen.” Einen Metzger mit blutiger Schürze auf die Bühne zu bemühen, darauf hat Antje Thoms wenigsten verzichtet.