„Regisseurin Antje Thoms findet lässige, patinafreie Bilder für die Geschichte der weltweit ersten Professorin für Mathematik. Immer ist eine große Nähe zu den Figuren spürbar.“

2018, Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen

Text: Anne Jelena Schulte Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Matthias Heid Ausstattung: Jeremias Böttcher Fotos: Isabel Winarsch

Mit: Bardo Boehlefeld, Andreas Jessing, Lutz Gebhardt, Christina Jung, Felicitas Madl, Dorothée Neff

„So widerwärtig es auch sein mag zwischen schmutzigen Pfützen den Weg zu suchen, er muss gefunden werden!“

Kurz, aber bewegt war das Leben von Sofja Kowalewskaja, der ersten Mathematik-Professorin Europas, die in Göttingen promoviert hat. Angesteckt von den emanzipatorischen Ideen der nihilistischen Jugend, stürzte sich die 1850 geborene Russin in das Abenteuer einer „Scheinehe“, um in Deutschland Mathematik studieren zu können. Nicht einmal zwei Jahrzehnte später war sie eine berühmte Frau. In den Jahren dazwischen aber war das nüchterne Konstrukt „Scheinehe“ in einer Tragödie kulminiert. Sofjas Freiheitsdrang war so groß wie ihre Schutzbedürftigkeit, ihre Liebesbedürftigkeit so unersättlich wie ihr Forschergeist, ihr Pathos unerträglich und ihr Humor unschlagbar trocken. Wissenschaftlerin, Literatin, Mutter, Ehefrau und Geliebte: viele Rollen hat sie probiert, keine davon passte ganz. Sie suchte die Erfüllung und fand stattdessen den Erfolg, auf dessen Höhepunkt sie starb.

Sofja – ein schnelles charmantes Biopic oder 1+1 = Revolution

Von der „gläsernen Decke“, an der sich hochqualifizierte Frauen heute kurz vor der obersten Führungsetage den Schädel blutig stoßen, können Sofja, Anjuta und Julija nur träumen. In ihrer Welt ist die Decke aus Stein, eine Karriere nicht vorgesehen und Denken ein überflüssiger Luxus im hübschen Köpfchen. Und doch spuken 1868 unerhörte revolutionäre Hirngespinste durch diese Welt, bis hinein in die tiefste russische Provinz. Wirre Ideen von sogenannter, äh, individueller Freiheit und von der Gleichheit aller Menschen, aller, ja, sogar dieser, naja, dieser weiblichen! Folglich bildet sich die gerade mal 17-jährige Sofja doch tatsächlich ein, studieren zu wollen, nur weil sie von klein auf eine geradezu nerdige mathematische Begabung aufwies. Autorin Anne Jelena Schulte und Regisseurin Antje Thoms finden lässige, patinafreie Bilder für die Geschichte der weltweit ersten Professorin für Mathematik: Sofja Kowalewskaja. Wenn die Bande der Jungwissenschaftler*innen weiter vorandrängt, schiebt sie den drehbaren Kubus an, den Bühnenbildner Jeremias Böttcher wie eine fluoreszierende Konstruktionszeichnung aus Kreide in die Mitte der schwarzen Bühnenfläche platziert hat: vorwärts immer, rückwärts nimmer – und irgendwie auch im Kreis. Es sind verschlungene Wege bis zu Sofjas Professur in Schweden. Antje Thoms präsentiert die Stationen in schnellen Schlaglichtern mit leichtem Tschechow-Touch und einem klaren Blick für die vielfältigen Abhängigkeiten der Figuren: der Tod des Vaters, die Rückkehr nach Russland, eine Phase wirklicher Liebe zwischen Vladimir und Sofja, Familienleben, finanzieller Abstieg, Sofjas Karriere-Neustart, für den sie alle Weggefährt*innen zurücklässt. „Sofja“ ist ein lebendiges, zugängliches Biopic. Immer ist eine große Nähe zu den Figuren spürbar. Selbst Vladimir, der sich irgendwann in Spekulationsgeschäften selbst verliert, darf sich mit einer zarten, leicht delirierenden letzten Vorlesung verabschieden. Einen Krähenflügel in der Hand hält er eine Liebeserklärung an die Evolution – und an die Sehnsucht als deren Triebfeder. Und nein, das ist nicht kitschig, einfach weil Bardo Böhlefeld es so unendlich verzweifelt, so im Wortsinne todtraurig spielt, das sogar dieser Satz sagbar wird: „Alles ist möglich. Alles ist möglich, hört nie auf, daran zu glauben.“

Unter ihren Röcken tragen sie Hosen

„Sofja – Revolution of a Stare Body“ ist ein rasantes, energetisches und rotierendes Stück geworden. Das DT2 wird zum dreidimensionalen Koordinatenkreuz. Weiße Linien teilen den Raum in Kästchen ein. In der Mitte steht ein Quader, der nichts anderes ist als ein Karussell. Um Sofja dreht sich alles in diesem Stück: Ihre Freundinnen, ihre Schwester, ihr Ehemann greifen nach den Eckpfeilern dieses Quaders und laufen los. Das bewegte Leben, der akademische Erfolg und die Revolution enden abrupt. Die vier jungen Akademiker kehren nach dem Tod des Vaters zurück nach Russland. Das Karussell ist keines mehr, stattdessen wird der Quader mit Hausrat und Plunder angefüllt. Der Raum wirkt zwischen Teppichen und Kissen eng und bedrückend. Mal traurig, mal unterhaltsam zeichnet das Stück die Biografie von Sofja nach. Andreas Jeßing gibt den Patriarchen das immer selbe, restriktive Gesicht. Lutz Gebhardt erzählt als Amme von Sofjas Kindheit und fragt zwischendurch: „Tee?“. Die Antwort ist stets dieselbe: „Nee.“ Die drei Frauen wollen keinen Tee. Sie wollen nicht zuhause warten, bis sich die Gesellschaft von alleine den Frauen öffnet. Sie wollen keine Hausfrauen sein, die Tee trinken, der Wärme und Heimeligkeit verbreitet. Sie wollen sich nicht trösten lassen, sie wollen Realität und Erfolg und Leiden. Unter ihren Röcken tragen sie Hosen. Mit Nachdruck, Energie und Lebensfreude verkörpern Jung, Madl, Neff und Böhlefeld die Hauptfiguren. Ein bewegtes Stück über ein bewegtes Leben.

Befreiung des Denkens

Wie drei Schwestern hocken sie weit weg auf einem Gut russischen Landadels. Aber von der Sehnsucht paralysiert wie ihre Kolleginnen in Tschechows Melancholiekomödien sind sie keineswegs, sondern quietschfidel. Sie träumen sich nicht nur nach Moskau, sondern raus aus Russland. Und flüchten in die Zukunft – weit weg nach Heidelberg. Obwohl ihnen die dortige WG-Butze wie eine „preußische Besenkammer“ erscheint, platzen sie fast vor Optimismus, Neugier und Bildungshunger. Wollen endlich freigeistig forschen und aus der stetig strebenden Wissensvermehrung auch soziale, politische und Geschlechter-Emanzipation ableiten. Historische Biopics sind beliebte Sujets fürs große Arthouse-Ausstattungskino. Dass „Sofja“ nun mit sparsamen Stadttheatermitteln am Deutschen Theater Göttingen uraufgeführt wird, lässt sich in Analogie zu den Stadtmusikanten erklären. Die kamen nie nach Bremen – und sind heute hochgeehrte Imageträger. Der Stoff serviert reichlich Vorlagen, um aus dem Fabulieren über unendliche große geometrische Figuren auf die Befreiung des Denkens und den Weltverbesserungsfuror zu sprechen zu kommen. Thoms ’ Inszenierung fokussiert vor allem die privaten Kalamitäten und den Versuch, die Zweckheirat aufs nächste Level zu hieven. Aber das Glück ist ein kurzes. Den Willen zur Karriere und zur Familie bekommt das Paar nicht zusammen. Christina Jung entwickelt die Figur der Sofja überzeugend aus dem frech-forschen Wildfang des Beginns und vermittelt, wie die übersprudelnde Lebensenergie im eremitischen Forschen verkümmert. „Nicht nur ihr Denken, auch ihre Haut wird immer abstrakter“, analysiert der Gatte. Die dunkle Seite des Selbstbewusstseins ist ebenfalls deutlich, wenn sie sich höchst verächtlich gegenüber intellektuell weniger Begüterten äußert. Als Running Gag fragt die Amme immer wieder: „Tee?“ Die Antwort ist stets: „Nee!“ Lecker Konventionen will niemand, eine Tschechow-Komödie reicht keinem – es soll ein emanzipatorisches Lehrstück mit Herz entstehen. Was prima gelingt.

An der Revolution verzweifelt

Sofja Kowalewskaya ist heute so etwas wie ein vergessener Star der Wissenschaftsrevolution im 19. Jahrhundert. Sie war nicht nur eine hochbegabte Wissenschaftlerin und weltweit die erste Frau, die eine Professur für Mathematik bekam, sondern auch eine Kämpferin für die Rechte der Frauen. Die Tochter eines russischen Generals überwand mit Beharrlichkeit alle Hürden, lebte ein schnelles Leben, stürzte in tiefe Not und starb früh. Fast schon ein James Dean der Zahlen und Formeln. Das Bühnenbild ist pure Geometrie. Auf schwarzem Grund treffen sich unzählige weiße Linien im rechten Winkel und laufen ins Unendliche. In der Mitte steht eine Drehbühne in Form eines Würfels. Er wird später zur zentralen Spieleinheit, zum Mittelpunkt des Geschehens. Alles ist Berechnung, selbst die Ehe mit Wladimir Kowalewsky. Damit kommt die Inszenierung der Realität in der zaristischen Oberschicht und den Startvoraussetzungen der Emanzipation wohl ziemlich nah. Christina Jung überzeugt in der Hauptrolle der verkopften und ein wenig unbedarften Sofja Kowalewskaja. Sie bleibt durchweg stoisch und zurückhaltend, dennoch schafft sie es, Akzente zu setzen. Die Rolle des verhinderten Ehemanns, Orientierungsloser und Revolutionär wider Willen erfüllt Bardo Böhlefeld so gut, dass man ihn durchaus mal tröstend zur Seite nehmen möchte, um ihm Mut zu zusprechen. Wladimirs gesprochene Briefe an den Bruder strukturieren das Stück. Sie sind eine schöne Reminiszenz an die Literatur des 19. Jahrhunderts, wichtige Teile auf Papier auszulagern. Der Hang zum „Brief zitieren“ ist nur eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert. Auch sonst steckt das Werk mitten im Symbolismus. Da ist das Tee trinken als Ausdruck des alten Russlands, die musikalische Begleitung und vor allem der Bezug auf Tschechows Kirschgarten als Zeichen für den vergangenen Glanz einer erstarrten Oberschicht. Doch das stärkste Symbol ist der drehende Würfel. Diese Bühne gerät immer dann in Rotation, wenn Bewegung angesagt ist, wenn lange Reisen und revolutionäre Veränderungen vor der Tür stehen oder sich die Binnenverhältnisse ändern. Sofja Kowalewskaja war ein Kind ihrer Zeit und ihrer Klasse. Das revolutionäre Subjekt kommt aus der Oberschicht, es geht nicht nur um die Befreiung der Massen, sondern vor allem um das Ich. Wahrscheinlich liegt hier der Kern des Stücks. Die Parallelen zu den Befreiern von Heute sind da. Wenn man es denn verstanden hat, dann ist es mehr als sehenswert.