„Eine Feier des Konditionals, ein Riesenspaß: Thoms‘ Version von Perecs parodistischer Diskursspirale, die am Freitag ihre umjubelte Premiere hatte, stellt die zersetzende Wirkung pedantischen Bedenkens vorzüglich aus.“

2016, Inszenierung am Saarländischen Staatstheater

Text und Regie: Antje Thoms nach Georges Perec Dramaturgie: Holger Schröder Ausstattung: Reyes Perez Fotos: Marco Kany

Mit: Gabriela Krestan, Klaus Meininger, Klaus Müller-Beck, Saskia Petzold

„sie wissen dass er weiß dass sie wissen und er weiß dass sie wissen dass er wusste dass sie gewusst haben dass er wissen würde dass sie wissen werden“

Das Leben kann als philosophische, spirituelle, biologisch-funktionale oder binäre Angelegenheit verstanden werden. In der binären Lesart gibt es immer und ununterbrochen Entweder-Oders, Entscheidungen, welche zu Option 1 oder Option 2 führen. Ununterbrochen ist in diesem Falle wörtlich gemeint, denn der Text, zu welchem sich diese Inszenierung verhält, hat keinen Punkt, kein Komma, nur eine endlose Folge von zu treffenden ja/nein-Entscheidungen, die zur jeweils nächsten führen, stets in der Hoffnung, vom Flur über das Vorzimmer in das Büro des Chefs zu gelangen, um dort einen positiven Bescheid zu erhalten auf das berechtigte Ansinnen nach mehr Lohn in der Tüte.

Es gibt viel zu Bedenken, wenn man seinen Chef um eine Gehaltserhöhung bitten will

An welchem Wochentag soll das Gespräch stattfinden, was hat der Chef zuvor in der Kantine gegessen, hat er eine Gräte verschluckt oder nicht, sind seine Töchter an Masern erkrankt oder nicht, ist er in seinem Büro oder nicht, muss man sich auf einen Schwatz mit seiner Sekretärin einlassen, was wiederum voraussetzt, dass diese gute Laune hat? Da gibt es nur entweder oder. Entweder finden Sie im entscheidenden Augenblick die richtigen Worte. Oder Sie finden sie nicht.

Perecs Endlossatz rauscht wie eine Flipperkugel durch ein komplex strukturiertes Organigramm der Arbeitswelt, in welchem die Vergeblichkeit menschlichen Strebens selbstverständlich nicht berücksichtigt werden kann – das ist eine Angelegenheit, die nur Sie betrifft – und die dadurch nur umso klarer zu Tage tritt.

Wenn das Wörtchen wenn nicht wär‘

Eine Feier des Konditionals, ein Riesenspaß: Man müsste mal – mit dieser Haltung ist noch nie mehr als ein Sturm im Wasserglas entfacht worden. Georges Perec hat sie parodistisch hochgenommen. Antje Thoms‘ den Text gebührend feiernde Bühnenversion sorgt für einen vergnüglichen Sparte4-Abend. Perecs Text ohne Punkt und Komma ist eine einzige, sprachartistische Feier des Konditionals, die vorführt, wie man sich vor lauter Erwägungen, Infragestellungen, Vorwänden, Hypothesen, Eventualitäten und Vorwegnahmen vertröstet, entmutigt und lähmt. Ein zeitlos aktueller Text also. Wer fürchtet nicht dieses oder unterlässt jenes, weil es ja sein könnte dass – man sich eine Abfuhr holen (Beziehungen) oder etwas passieren (Reisen) oder das nationale Vorgärtchen bedroht (Flüchtlinge) werden könnte? Antje Thoms‘ Version von Perecs parodistischer Diskursspirale, die am Freitag ihre umjubelte Premiere hatte, stellt die zersetzende Wirkung pedantischen Bedenkens vorzüglich aus. Aus der sich genüsslich permanent im Kreis rotierenden Abwägungssuada der Vorlage macht sie einen auf vier Stimmen verteilten Bedenkenträgerchor, den Gabriela Krestan, Saskia Petzold, Klaus Meininger und Klaus Müller-Beck glanzvoll meistern. Köstlich ihr verhaltenes, klamaukfreies Mienenspiel und die eingeschobenen Szenen stummen Spiels. Die Pointe sitzt: Ihre Entweder-Oder-Schlachtordnung praktizieren sie bis zur Rente. Ergebnislos. Thoms zeigt vier Ausgesperrte, die im blendend weißen Vorzimmer der Macht sich Hinderungsgründe wie Bälle zuwerfen. Die Tür zum Chefzimmer wird bis zuletzt verschlossen bleiben. Dass diese Optionen und Eventualitäten auf ihren Blöcken Notierenden per Hin- und Abhalten systemstabilisierend wirken, liegt auf der Hand. Ein höhnischer Seitenhieb auf die Beraterbranche, die unser Arbeitsleben mit wohlfeilen Vorschlägen und alertem Business-Getue unterwandern, was in erster Linie nur ihnen selbst nutzt. Perec hat all das schon vor 50 Jahren demaskiert. Gebetsmühlenhaft predigen die Vier ein Leben im Wartestand. In einem furiosen Monolog wechselt Klaus Meininger am Ende die Seiten und brüllt „Sie“, womit wir alle gemeint sind, als Chef nieder. Kein Wunder, dass es mit der Gehaltserhöhung nichts wurde. Hätten wir uns besser mal an Luhmann gehalten. Der empfahl in „Der neue Chef“ als Umgangsstrategie: „Hilfreich ist die Vorstellung, der Vorgesetzte habe keine Kleider an.“

Zugespitzte Parodie auf die Theorieverliebtheit einer Generation

„Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten“ ist ein Baumdiagramm des Scheiterns, des Zauderns, des Verschiebens, der Lebensangst – eine zugespitzte Parodie auf die Theorieverliebtheit einer Generation, die so gerne über dieses und jenes geredet hat, dass mancher tatsächlich die Zeit des Handelns aufs Rentenalter verschoben haben mag. Die ganze Politisiererei – ein Vorwand, um bloß nicht zu direkt den Kern der Dinge anzusprechen. Die grundlegenden menschlichen Dilemmata sind immer dann zu erahnen, wenn die Regisseurin prägnante Bilder dafür findet: Aus der weißen Bühnenwand lassen sich vier Sitzflächen herausklappen, eigentlich genau passend für die Anzahl der Schauspieler. Nur lässt sich eine nicht stabil fixieren. Unangenehm, sich dazu zu verhalten, ohne unhöflich, egozentrisch oder gar unsicher zu wirken. Schön und gleichzeitig fies zu sehen, wie das Saarbrücker Ensemble in ihren Columbo-Trenchcoats da peinlich berührt ins Schwitzen kommt. Schön auch die Idee, das Motiv der Handlungsunfähigkeit mit ineffizient eingesetzten Baumarktutensilien zu illustrieren. Und schön zu hören, wie Klaus Müller-Beck ganz beiläufig den deutschen christlichen Kirchenschlager „Danke für diesen guten Morgen“ pfeift, in dem voller Demut auch das vermeintliche Gottesgeschenk einer Arbeitsstelle besungen wird. Mehr von den kraftvollen Bilderwelten der Antje Thoms hätte ich mir gewünscht, denn sie kann ja ungemein atmosphärisch dichte Situationen schaffen, das hat sie mit der wirklich tollen Erfolgsinszenierung von „Supergute Tage“ unter Beweis gestellt und auch jetzt in der „Kunst seinen Chef anzusprechen“  gibt es wunderbare Zuspitzungen.