„Antje Thoms schießt Brunners Sprachpfeile direkt in die Mägen des Publikums.“

2012, Uraufführung von Trainingslager

Text: Katja Brunner Regie: Antje Thoms Bühne: Romy Springsguth Kostüme: Simone Hofmann Musik: Sandra Künzi Choreografie: Christa Näf Dramaturgische Mitarbeit: Sven Björn Popp, Andrea Schmid Grafik: Florian Barth Produktion: Gabi Bernetta Fotos: Judith Schlosser Mit: Julia Doege, Vivianne Mösli, Julia Schmidt, Marie-Isabel Walke

In Koproduktion mit Theater Winkelwiese Zürich und Schlachthaus Theater Bern Gefördert durch Präsidialdepartement der Stadt Zürich, Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Migros Kulturprozent, Ernst Göhner Stiftung, Hamasil Stiftung, Schweizerische Interpreten Stiftung

„Er zeigte auf ihre Wangen und da bekam er solchen Hunger, dass er anfing, seine Tochter zu essen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann isst er sie noch heute.“

Da ist eine Familie. Vater, Mutter und Kind. Namenlos. Bürgerlich. Austauschbar. Alles könnte gut sein und werden, doch etwas läuft schief, heillos schief. In dem beeindruckenden Debüt Katja Brunners – entstanden im Dramenprozessor 2009/10 – wird die Sprache zu einem Seziermesser, das die VaterMutterKindWelt zerschneidet und die schwindelerregenden Abgründe menschlicher Leidenschaft aufdeckt.

In der Inszenierung streiten vier Frauen, die nur Splitter einer einzigen sind, um ihre Sicht auf die Welt, die Richtigkeit ihrer Erinnerungen, die Intensität ihrer Gefühle. Ein Familienthriller, ein grausiges Märchen, ein furioses Sprachgewitter, dass alle moralischen Kategorien zusammenfallen lässt wie ein Kartenhaus.

Unerträglich fröhlich

Vier vom Äußeren und im Spiel auf Göre getrimmte, aber allesamt starke Schauspielerinnen teilen sich die Rolle des Mädchens, das – mit schrecklich verschobenem Blickwinkel – auf die eigene Misshandlung durch den Vater blickt. Der herausragende Text von Katja Brunner erfährt durch die Regie von Antje Thoms eine eindringliche und treffliche Uraufführung – wird damit aber umso weniger erträglich. Ungeduldig wippen sie mit den Beinen, rempeln sich kichernd gegenseitig an, schnippen den Arm aufstreckend mit den Fingern, um ja nicht übersehen zu werden, und reden dem Publikum den Kopf mit eilig gehaspeltem Durcheinander regelrecht sturm. Ein Kinderspiel, in dem sich die vier Schauspielerinnen genauso aufführen, wie wenn kleine Mädchen spielten. Sie wechseln die Stimmlagen, je nachdem, für wen sie sprechen, agieren mitunter viel kindischer als es ihrem Alter entspricht und changieren zwischen jovialem Lolitablick und trotzig vorgebrachter Altklugheit. Das ist formal dermaßen spaßig, dass es Antje Thoms damit letztlich kongenial gelingt, die inhaltliche Grausamkeit der schmerzlich punktgenauen Wortwahl von Katja Brunner durch spürbar absichtliches Überspielen des Schmerzes nachgerade zu verdoppeln. Die Inszenierung gerät damit zu viel mehr als der reinen Bühnendarstellung des Textes, sondern wird zur regelrecht empathisch nachfühlbaren – in der Gesamtheit der darin innewohnenden Ambivalenz abdeckenden – Forschungsreise in die verborgenen Abgründe hinter dem übermenschlich hohen und unumstößlichen Schutzwall. Letztlich gelingt der Regisseurin damit die brutalstmögliche Konfrontation, denn wenn die Abgründe von Misshandlung mit engelsgleicher Fröhlichkeit überspielt werden, der Text jedoch den ungeschminkten Blick auf die Gräuel freigibt, wird die Ambivalenz, der Schutzmechanismus und dahinter natürlich auch der (nur im Kopf „nachvollziehbare“) unermessliche Schmerz nicht nur erkenn- und durchschaubar, sondern springt einen regelrecht mit verzerrter Fratze und geschliffenen Krallen ungebremst und direkt an. Somit erweist die Regisseurin dem Text, den Katja Brunner während des letzten „Dramenprozessors“ geschrieben hat, die bestmögliche Referenz beziehungsweise Umsetzung, unterstreicht dabei aber auch den für psychologisch nicht geschultes Publikum kaum schadlos zu überstehenden Zusammenprall mit einem mehrheitlich immer noch als Tabuthema gehandelten Umstand. Dass Katja Brunner die kindliche Ambivalenz dermaßen trefflich in Worte zu fassen weiß, macht die Lage noch vertrackter. Denn ganz gewiss wird mit dieser Herangehensweise an den Text, dass bares Schwarzweißdenken – aus der Perspektive des Kindes – kaum je irgendwohin führt, wo es Verarbeitung, Linderung des psychischen Traumas oder gar im entferntesten so etwas wie «Rettung» geben könnte.

Ein starkes Stück über Kindesmissbrauch

Das Stück ist eine starke Vorlage und die Inszenierung von Antje Thoms vermag dieser durchaus gerecht zu werden. Denn sie hält sich fern von jeglichem Schnickschnack, lässt den Text für sich sprechen und gibt den Darstellerinnen viel Raum. So entwickelt sich ein brillantes und beklemmendes Drama. Selbstzerfleischung, Angst, Wut und Selbstgefälligkeit wechseln sich in rasend schnellem Tempo ab. Opfer- und Tätersicht werden dabei vermischt. Das Publikum wird mit Aussagen konfrontiert, die schwierig zu verdauen sind. Aussagen, die man lieber gar nicht hören würde. Und trotzdem schafft es die Inszenierung, diese Vorgänge als völlig alltäglich darzustellen. Und gerade damit werden sie für das Publikum mehr und mehr abstrus und krank.

Spannungsvolles, vielschichtiges Ereignis

In ihrem Stück „von den beinen zu kurz“ protokolliert Katja Brunner einen Fall von Kindsmissbrauch in der Familie. Ein beklemmender Text. Der Vater ist tot, hat sich von einem Turm herab zu Tode gestürzt. „Also er ist – er war einfach – eine Lichtgestalt – immer schon – eine Respektsperson – er hatte diese Aura der Liebe und der Sicherheit“, sagt seine Tochter an der Abdankung. Sie sagt das voller Trauer, zündet eine Gedenkkerze an und geht ab. Erstaunliche Worte für ein Kind, das jahrelang von seinem Vater missbraucht worden ist? Nein. Das macht die 21-jährige Zürcher Autorin Katja Brunner bewusst. Missbrauch hat eine Kehrseite. Im Spiel sind auch Liebe, Zärtlichkeit, Zuneigung und kindlicher Stolz, einen so lustigen Vater zu haben, der tierliebend ist, mit dem Kind lacht, herumtollt und es dabei auch kitzelt. „Von den Beinen zu kurz“ rollt diese Geschichte des Missbrauchs aus unterschiedlichen Perspektiven und in atemloser Sprache auf. Katja Brunner gibt die Stimme nicht nur dem Mädchen, sondern auch dem Vater, der Mutter, dem Arzt. Ohne explizit zu verurteilen, zeichnet der beklemmende Text das empörende Bild einer Gesellschaft, die Machtverhältnisse tabuisiert, verharmlost und so den Nährboden legt für Ausbeutung, Unterdrückung – für Kindsmissbrauch. Geschrieben hat Brunner „ein Stück für vier oder fünf Schauspielerinnen oder 13 Männer in Bademänteln“. Regisseurin Antje Thoms hat sich für die erste Variante entschieden und schickt die vier exzellenten Schauspielerinnen Julia Doege, Vivianne Mösli, Julia Schmidt und Marie-Isabel Walke auf die Bühne. Abwechselnd spielen sie das Mädchen und schlüpfen in die anderen Rollen. So macht Thoms jede der Szenen zu einem spannungsvollen, vielschichtigen Ereignis.

Wenn Väter zu sehr lieben

Die 1991 in Zürich geborene Katja Brunner übersetzt eine Missbrauchsgeschichte in einen Mädchenchor. Fast geschlechtslos, in neutrales Blau und Schlabberkleider gepackt – unter denen ab und an Lolita-T-Shirts hervorblitzen, erzählen Julia Doege, Vivianne Mösli, Julia Schmidt und Marie-Isabel Walke als Töchter spielfreudig von den Stationen ihrer Liebe. Liebe? Liebe! – behaupten sie, sei der Inzest mit dem Vater gewesen; und das ist die Irritation, um die der Abend kreist. Im engen Holzgerüst eines multifunktionalen Sandkastens schaufeln die jungen Frauen nach ihren Kindheitserinnerungen, verwechseln dabei Täter und Opfer, missverstehen sich als verfolgtes Paar, als Romeo und Julia, so wie es ihnen ihr Vater einst souffliert hat. Da ist alles aus den Fugen: Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung, Familienkonstellation. Urteil oder Vorurteil? Für diese alten Kinder sind die Grenzen längst verwischt; wie sie sich mit Lügen übers Leid hinwegtrösten, entlarvt die Autorin scharfsichtig in der stringenten Inszenierung von Antje Thoms.

Teufelskreis der Kleinfamilie

Das Theaterdebüt „von den beinen zu kurz“ der Jungautorin Katja Brunner ist schwere Kost. Da missbraucht ein Vater seine Tochter – ein Mädchen im Kindergartenalter. Da gibt sich eine Tochter dem Vater hin; für sie, die nichts anderes als die Perversion kennt, ist der Täter eine Lichtgestalt. Da schaut eine Mutter zu, weil sie den Vater liebt und die „Familienidylle“ nicht zerstören möchte. Und da ist der Blick von aussen, von den Juristen, Psychologen, Ärzten und Journalisten, die voyeuristisch dieses Familiendreieck auf den Seziertisch hieven. Der Autorin gelingt es, die Problematik des Missbrauchs zu beschreiben ohne moralisch zu urteilen. Das ist die Stärke an dem Stück. Verschiedene Perspektiven werden durchgespielt, anhand von märchenhaften Einschüben wird die Harmonie zwischen Königin, Prinzessin und König scheinbar wiederhergestellt. Regisseurin Antje Thoms verteilt den mehrstimmigen Monolog auf vier Darstellerinnen, die alle hellblaue Oberteile, dunkelblaue Hosen und farbige Haargummis tragen, eine Reminiszenz an das Mädchen. Das leuchtorange Holzbank-Quadrat auf der Bühne, das den Teufelskreis, in dem diese Familie steckt, symbolisiert, dient als Sandkasten oder Gehege im Streichelzoo. Darin liegen Äpfel, als Symbol der verlorenen Unschuld oder einer verbotenen Frucht beziehungsweise Lust, denn für die Vaterfigur – und tragischerweise für das Kind, welches den Missbrauch verinnerlicht hat – sind Pädophilie und Inzest verbotene Lüste. Diese Äpfel werden der Tochter in der Arztbesuch Szene in die Hosen und in den Mund gestopft, ein eindrückliches Bild. Wenn auch die Inszenierung bisweilen irritiert, so gibt es doch starke Szenen.

Sprachpfeile

Antje Thoms schießt Brunners Sprachpfeile direkt in die Mägen des Publikums.