"Thoms stellt in ihrer Inszenierung ein extrem gutes Gespür für Grenzen unter Beweis. Sie entfernt von der Vorlage gerade so viel Patina wie nötig, schafft ein paar kluge aktuelle Bezüge, ohne über-zu-pandemisieren. Im fast taghellen Saal verschwimmen die Grenzen von Industriebrache und Kulisse, irgendwo dazwischen hört Theater auf und Klinik beginnt. Das alles ergibt einen äußerst stimmigen Theaterabend, der kurzweilig ist, spannend und unterhaltsam. Ein Aufenthalt im „Park Martini“ ist zum Glück nicht nur auf ärztliche Einweisung möglich."

2020, Inszenierung am Staatstheater Augsburg

Text: Friedrich Dürrenmatt Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Lutz Keßler Ausstattung und Video: Florian Barth Musikalische Leitung: Stefan Leibold Fotos: Thomas M. Jauk / Stage-Picture

Mit: Elif Esmen, Gerald Fiedler, Ute Fiedler, Andrej Kaminsky, Jenny Langner, Klaus Müller, Sebastian Müller-Stahl, Patrick Rupar und Mika Dal Ponte, Bülent Sönmenz, Maximilian Thiel, Helene Nagel, Margarete Nagel, Nikolaus Nagel, Oscar Brune, Johannes Oberroither, Jakob Oberroither

„Alles Denkbare wird einmal gedacht. Jetzt oder in der Zukunft.“

Aus dem Martini Park, der Interims-Spielstätte des Staatstheaters Augsburg, ist mittlerweile das exklusive Sanatorium „Park Martini“ geworden, in welchem die Klienten nach neuesten Erkenntnissen und Methoden behandelt werden. Unter der Leitung von Frau Doktor von Zahnd pflegt das Personal einen respektvollen Umgang mit den Patienten, die sich ihrerseits nahtlos in die strengen Regeln des Klinikalltags einzufügen haben. Unter ihnen sind drei Wissenschaftler. Der eine behauptet, er sei Albert Einstein, der andere, er sei Sir Isaac Newton. Nur der dritte hält sich für sich selbst: Johann Wilhelm Möbius. Er hat sich vor fünfzehn Jahren freiwillig eingeliefert, weil er eine Entdeckung machte, die so brisant ist, dass deren Veröffentlichung die Vernichtung der ganzen Menschheit zur Folge haben könnte. Im radikalen Rückzug sieht Möbius die einzige Chance, die Welt vor den Folgen seiner Forschung zu bewahren. Eines Tages aber kommt der Klinikalltag aus dem Tritt: Die drei Wissenschaftler ermorden die für sie zuständigen Krankenschwestern und im Zuge der polizeilichen Ermittlungen droht Möbius’ Geheimnis aufzufliegen. Nichts ist wie es scheint. Und die Wissenschaftler haben die Rechnung ohne Frau Doktor von Zahnd gemacht, die die Männer längst durchschaut hat und im Schutz der Fürsorge gnadenlos steuert, um ihr persönliches Ziel – die Weltherrschaft – zu erreichen.

Wo liegen die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis?

Wer ist verantwortlich für das, was gedacht wird und was aus diesen Gedanken resultiert? Wie lassen sich wissenschaftliche Entdeckungen verwerten, ohne die Menschheit zu gefährden? Ist Fortschritt steuerbar, lässt er sich überhaupt verhindern und wem kommt er zugute? Ob Gen-Sequenzierung, Stammzellenforschung, KI oder die Folgen der Digitalisierung, immer wieder stellt sich die Frage, ob das Mögliche auch das Nötige ist.

Grenzen der Wirklichkeit

Antje Thoms stellt in ihrer Inszenierung ein extrem gutes Gespür für Grenzen unter Beweis. Sie entfernt von der Vorlage gerade so viel Patina wie nötig, schafft ein paar kluge aktuelle Bezüge, ohne über-zu-pandemisieren, lässt den Wahnsinn immer auf der Ebene des Grotesken, und nie driftet der Abend in Klamauk ab. Im fast taghellen Saal verschwimmen die Grenzen von Industriebrache und Kulisse, von Hygieneregeln im Theaterfoyer und auf der Bühne, Mund-Nasen-Schutz wird vom Ensemble und vom Publikum getragen, irgendwo dazwischen hört Theater auf und Klinik beginnt. Das alles ergibt einen äußerst stimmigen Theaterabend, der kurzweilig ist, spannend und unterhaltsam. Ein Aufenthalt im “Park Martini” ist zum Glück nicht nur auf ärztliche Einweisung möglich.

Lachen im Entsetzen

Es ist eine hinreißende Szene zum Staatstheater-Spielzeitauftakt in Augsburgs Martini-Park: drei Halbwüchsige verabschieden sich von ihrem leiblichen Vater mit einem die Schuhe ausziehenden Blockflötentrio, während der neue Stiefvater falsch dirigiert und Albert Einstein vor Rührung schluchzt. So etwas kann nur erfunden sein – oder in der Klapse, in der Nervenheilanstalt geschehen. Friedrich Dürrenmatts Welterfolgsstück „Die Physiker“ nimmt neu gefangen: Fein säuberlich, ganzheitlich und im Detail, wird durchexerziert, wie grotesk es in einem Irrenhaus zugehen kann. Alle scheinen unter Drogen zu stehen, die männlichen Insassen wie das weibliche medizinische Personal. Regisseurin Antje Thoms und Ausstatter Florian Barth haben generalstabsmäßig eine Atmosphäre falscher zwanghafter Harmonie und klinischer Perfektion erzeugt. Alles ist hier auf professionelle Beruhigung angelegt – bis die grausame Pointe der Weltmacht-Übernahme durch eine Frau das böse Ende setzt. Es ist doch so: Von den Geschehnissen in einem Irrenhaus hängt sowohl tatsächlich als auch im übertragenen Sinn ab, ob die Welt hops geht. Dieser Abend ist ein Gewinn.

Heilanstalt, TV-Show oder Gefängnistrakt?

Theater werden bei einer Sanierung oft in zwar interessante, doch schwer erreichbare Industriegebiete ausgelagert. Spielort für das große Haus des Staatstheaters ist derzeit der Martini-Park. So hat Antje Thoms “Die Physiker” von Friedrich Dürrenmatt ins Sanatorium “Park Martini” verlegt. Privatpatienten und Selbstzahler sind besonders erwünscht, erfährt man in der ausgeteilten Broschüre. In diesen verrückten Zeiten ist so eine Nervenheilanstalt vielleicht gar kein schlechtes Refugium. Penibel wird sich an die Hygienevorschriften gehalten. Auf der Bühne wird Maske getragen und “Happy Birthday” gesungen beim Händewaschen. Drei Krankenschwestern treiben die Patienten an, im Kreis zu laufen; lieblich zwanghaft singen sie dabei. Ist das eine Heilanstalt, eine TV-Show oder Gefängnistrakt? Die Vor- und Abgeführten: Newton, Einstein und Möbius. Letzterer, in Eigenartigkeit zurückgezogen gespielt von Sebastian Müller Stahl, hat die Weltformel entdeckt. In den falschen Händen würde sie zur Vernichtung der Menschheit führen, darum sperrt er sich hier weg – und wird am Ende doch zum Mörder. Ein flaues Gefühl ergreift einen, als Ute Fiedler als Leiterin des Sanatoriums, am Ende zu orchestralen Klängen den roten Laserstrahlen und einer neuen Dimension entgegengeht. Man denkt an die Weltverschwörungsspinner und eilt nach draußen, ehe hier doch noch einer alle Türen verriegelt.

Was wir denken, hat Folgen

Willkommen im coronagerecht ausgestatteten psychiatrischen Sanatorium »PARK MARTINI«. Wir empfangen bevorzugt zahlungskräftige Patient*innen und sortieren sie nach Merkmalen. Frau Dr. Mathilde von Zahnd begrüßt Sie persönlich. Nehmen Sie bitte am Eingang unsere Broschüre mit. So könnten die Besucher*innen begrüßt werden. Die Bühne ist zur weißen Heilstätte verwandelt: Desinfektion, Masken; gemeinsamer Gesang, den Frau Doktor anleitet; wiederholt psychedelische Musik und nervenheilende Lichtprojektionen. Diese Inszenierung von Antje Thoms ist unbedingt sehenswert. Sie stellt unter anderem die Themen Macht und Ethik sowie die Verantwortung der Wissenschaft zur Diskussion. Alle Darsteller*innen agieren auf hohem Niveau. Den Besucher*innen bleibt die Frage, welche Gefahren Menschheit, Mitwelt und Erde heute bedrohen.

Wunder gibt es immer wieder

Irre, einfach nur irre! Dieses Wort erhellt, was in der Klinik „Park Martini“ auf der Bühne und in der Gegenübertragung beim Publikum abgeht. Regisseurin Antje Thoms zeigt mit Ausstatter Florian Barth, was Friedrich Dürrenmatt der Welt vor Augen führen wollte: nämlich, dass diese „irre“ ist. Dürrenmatts Handlung, in das Jahr 2020 verlegt, zeigt mit AHA- Effekten (Abstand, Hygiene, Atemmaske), was sich auf der Weltbühne abspielt. Zur Uraufführung 1962 war der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion noch durchschaubar. Was hat sich seither geändert? Nichts, müssen die Theatergänger zugeben. Außer, dass vor 50 Jahren keine Pandemie um den Erdkreis strömte, und die Angst vor dem Ende sich nicht nur auf zwei Irre an den Schalthebeln reduzieren lässt. Im „Irrenhaus“ des Staatstheaters Augsburg passen sich die „Klinik-Insassen“ den Gegebenheiten an. Morde à la Geheimdienst-Operationen gehören dazu, und Klinikleiterin wie Strippenzieherin Mathilde von Zahnd (Eins A: Ute Fiedler) toppt das Verrücktsein ihrer Patienten. Zur Auflockerung wird Flöte gespielt und gesungen. Schade, Mitsingen ist wegen Corona verboten. Diese Augsburger “Physiker” nerven ganz wunderbar. Im kaum veränderten Originaltext gibt es lokale Querverweise, die die Lachmuskeln reizen. Applaus ohne jede Ausnahme im Theater im Martinipark.

Irrwitz als Realität

Ausgewählte Besucher werden von der freundlichen Oberschwester im Foyer des Martiniparks empfangen und durch das Haus geführt: „Park Martini“ wird als ein „ehemaliges Theater“ präsentiert, das gerade zum Sanatorium umgebaut wird. Orchester-Probenräume seien erhalten geblieben, um den Patienten „ein Gefühl von Normalität“ zu geben, „therapeutisches Musizieren“ gehöre zum Behandlungskanon der renommierten Heilstätte. Schließlich landet man im „Physikertrakt“, kann einen Blick in die Zimmer der drei Patienten werfen, die „manchmal etwas scheu“ sind und nicht angesprochen werden wollen. Zwischendurch selbstverständlich die Anweisung, sich die Hände zu desinfizieren und der Hinweis, dass beim Gehen eine bestimmte Richtung eingehalten werden muss. Und schon ist man, bevor man überhaupt seinen Platz eingenommen hat, mittendrin im Geschehen. Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“, deren Handlungsort eine Irrenanstalt ist, bietet eine gute Portion Skurrilität. Antje Thoms greift diese Steilvorlage in ihrer Inszenierung auf und überspitzt sie, indem die durchaus irrwitzig anmutenden Corona-Hygieneregeln, die für die Darsteller gelten, in den Tagesablauf der Irrenanstalt integriert werden. Alle Akteure tragen Masken – transparente Plastikschilde zumeist, was zumindest freie Sicht auf die Mimik erlaubt, und gehen sich pausenlos ängstlich und in der vorgeschriebenen Laufrichtung aus dem Weg. Der Mindestabstand wird zelebriert, Patient „Newton“ hat sogar einen Zollstock dabei, mit dem er die Mitmenschen auf Distanz hält, und der ihm gleichzeitig als „Steckenpferd“ dient. Permanent werden Hände desinfiziert oder gewaschen, vorschriftsmäßig singen alle dabei im Chor „Happy Birthday“. Die Irrenanstalt, wo Morde einfach nur „Unglücksfälle“ sind, ist eine eigene Welt, da sind solche Rituale Teil der Realität, wie der im Desinfektionskasten versteckte Cognac. Dürrenmatts Stück um die Verantwortung des Wissenschaftlers für die Folgen seiner Forschungen hat nichts von seiner Aktualität verloren. „Was einmal gedacht worden ist, kann nicht mehr zurückgenommen werden“ gilt angesichts der unübersichtlichen Komplexität der Welt mehr denn je. Thoms inszeniert bewusst komödiantisch, bis hin zu Slapstick-Effekten. Der witzige Einfall, Wörter aus dem Text sozusagen als „Stichwort“ für ein Lied (wechselnden Genres, vom Volkslied bis zum Schlager) aufzugreifen, das dann ohne jeden weiteren Kontext a capella geträllert wird, zieht sich durch die ganze Inszenierung. In einer Szene kommt der Musik zentrale Bedeutung zu, als Möbius von seiner Familie Abschied nimmt und dem Frust darüber in einer dichten Rock-Nummer Ausdruck verleiht. Gleichsam als Kontrast zum braven Geflöte der Möbius-Kinder davor. Das manierierte Agieren fordert die Einzelleistung der Darstellerinnen und Darsteller heraus und stellt sie jeweils in den Fokus des Handelns. Kongenial zu Möbius die großartige Präsenz der beiden Physiker-Kollegen, aber auch die Schwestern überzeugen durch Leichtigkeit und Esprit. Kriminalinspektor Voß wandelt sich vom gewissenhaften Ermittler zum schikanösen Quäler seines Untergebenen. Die immer präsente Hauptperson ist jedoch „Frau Doktor Mathilde von Zahnd“, souverän von der unglaublich vielseitigen Ute Fiedler verkörpert. Eine runde, witzige Inszenierung mit lokalen Anspielungen. (Reinholz, DAZ)

Das Staatstheater als Irrenhaus

Worin befindet sich das Publikum des Staatstheaters Augsburg als Erstes in der Spielstätte Martinipark? Im Nervenheilsanatorium von Frau Doktor von Zahnd „Park Martini“, das Genesungsheim für psychisch Angeschlagene. Klar, dass hier alle Mundschutz zu tragen haben; klar, dass hier nicht noch zusätzliche Konflikte gesucht werden. Alles ist auf klinische Sauberkeit und wahnsinnig positive Atmosphäre ausgelegt. Beruhigende Musik, beruhigender freundlicher Singsang des weiblichen medizinischen Personals, ständig verordnet-eingeschobene körperliche Entspannungsübungen. Sedativ und Aufheller bestimmen Sprache, Gang, Aktion. Alles ist gut. Und gäbe es unter den Voyeuren im 130-Personen-Auditorium Überspanntheiten: bitte schön, die Infobroschüre zum Sanatorium liegt aus, man braucht sich nur bei Frau Doktor anzumelden. Regisseurin Antje Thoms, die in Augsburg wiederholt Gutes abliefert, zaubert mit ihrem Ausstatter Florian Barth generalstabsmäßig und ganzheitlich einen beklemmend-rosigen Dunstkreis – indessen Frau Doktor im Begriffe ist, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Dass dieses Wahnsinnsambiente mit seinen vielen Tics nerveux in Form sprachlicher und gestischer Repetitionen mitunter auch auf den Wecker geht, gehört eben zum Enervierungspotenzial von Irrenhäusern, in denen zwanghaft falsche Harmonie hergestellt wird. Wie das kippen kann, ist hübsch dargestellt bei der händischen Erdrosselung der euphorischen Schwester Monika durch den genialen Physiker Möbius, der zwar gefühllos, lethargisch auf einer Tonhöhe spricht, aber als Einziger den Grips aufbringt, die möglichen Konsequenzen (eigener) wissenschaftlicher Forschung und deren Anwendung zu durchschauen. Sebastian Müller-Stahl macht aus seinem Rollenspiel ein theatrales Kabinettstückchen, große Klasse. Auch Klaus Müller beeindruckt – bevor er sich zusammen mit Isaac Newton als physikalisch geschultes Geheimagentenpaar entpuppt. Aber die drei Akademiker mit ihren unterschiedlichen Interessenlagen werden nichts ausrichten können gegenüber Frau Doktor, die – durch Wagners Walkürenritt hollywoodmäßig dick aufgetragen – die globale Macht übernimmt. Überhaupt die Musik an diesem Abend: Wir hören keinen ernst zu nehmenden Buxtehude, keine ernst zu nehmende Beethoven-Kreutzersonate auf Einsteins Geige, sondern eher dämpfende Surrogat-Allgemeinplätze der Musik: Volkslieder, Schlager – mit Ausnahme eines gleichsam fluchenden Heavy-Metal-Songs durch Möbius, Einstein, Newton. Dem Augsburger Sanatorium „Park Martini“ ist ein volles Haus auf Dauer zu wünschen.

Wissenschaft als Gefahr

Die Inszenierung von Antje Thoms am Augsburger Staatstheater transportiert das Stück glaubhaft in unsere Zeit. Dürrenmatts zentrale Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft wird hier stark auf die gegenwärtigen Verhältnisse bezogen. Da werden Biotechnologie oder autonome Roboter auf Videoscreens gezeigt, und auch COVID-19 ist mit routinierten Ritualen wie Masken, Hygiene-Vorschriften und permanentem Händedesinfizieren dauerpräsent. Die Inszenierung ist voll Witz und betont so die Komödie in Dürrenmatts Stück. Da wird das Sanatorium zum „Park Martini“ (elegant die Betonung auf dem zweiten „i“!) mit Logo und allem Drum und Dran; die Schweizer Lokalitäten bei Dürrenmatt werden ins Augsburger Umland von Adelsried bis Wertingen verpflanzt. Newtons Zollstock verwandelt sich mal in ein Steckenpferd, mal in einen Regenschirm; der bullige Oberpfleger wird umbenannt in Axel Schulz und das Versteck für die Kognakflasche ist nicht mehr ein alter Kamin, sondern die Box fürs Desinfektionsmittel.