„Triumph mit Schlichtmusik! Das Programm solcher Feiern mit Schlichtmusik und manchmal auch ganz schlimmen Witzen ist normalerweise nicht dazu angetan, ein Theaterpublikum einen Abend lang zu unterhalten. Dass das dennoch funktioniert, liegt an einigen entscheidenden Schlüsselfaktoren. Zu allererst: Dort agieren Menschen, die trotz aller Klischees tatsächlich viel Menschliches zeigen. Das Premierenpublikum applaudiert im Stehen und fordert Zugaben."

2013, Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen

Text und Regie: Antje Thoms nach Heinz Strunk Dramaturgie: Anna Gerhards Bühne: Florian Barth Kostüme: Katharina Meintke Musikalische Leitung: Fred Kerkmann Fotos: Isabel Winarsch

Mit: Gaby Dey, Peter Füllgrabe, Norman Grüß, Fred Kerkmann, Nikolaus Kühn, Michael Meichßner, Moritz Pliquet, Steffen Ramswig, Andreas Schneider, Anja Schreiber, Andrea Strube, Paul Wenning u.a.

„Der Mensch ist kein Beilagenesser.“

Heinz hat es schwer. Er lebt mit seiner psychotischen Mutter in einem winzigen Haus am gefühlten Ende der Welt, das Leben ist anderswo und die Mädchen sind es auch. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist Heinz zwar längst volljährig, hat aber immer noch Akne, keinen Job und keine Ausbildung – von Sex ganz zu schweigen. Trübsinnig weggerubbelte Fantasien, Bier und Fernsehen bis zum Sendeschluss sind die bestimmenden Parameter seines  Lebens. Da klingelt das Telefon und Mutters Unterricht erweist sich als Segen: Heinz wird Musiker! Unter der Leitung von Bandleader und Talentscout Gurki spielt er fortan in der drittklassigen Tanzband „Tiffanys“ im rosa Glitzersakko sämtliche Evergreens auf Hochzeiten, Scheunen- und Schützenfesten im Landkreis. Der Alkoholkonsum steigt, das Essen wird radikaler – man isst Fleisch mit Fleisch statt mit Gemüse – der Ruhm als Musiker lässt auf sich warten und die Weiber erweisen sich als tückische Biester, in deren Nähe sich die Hölle der Post-Pubertät in demütigender Weise am spürbarsten auftut.

Eine Landjugend mit Musik, eine groteske, bitterböse Mentalitätsgeschichte der 80er Jahre Bundesrepublik, die sich über das schaurig-schöne Schlagerrepertoire der „Tiffanys“ erzählt.

Triumph mit Schlichtmusik

„Da steht ein Pferd auf dem Flur“ ist einer der Hits von Klaus und Klaus. Der Stimmungsschlager darf bei keinem Tanzvergnügen fehlen, sei es im Schützenzelt oder op de Deel. Aus Krachern ähnlichen Kalibers, allesamt nur mit einem Mindestpegel an Alkohol im Blut zu ertragen, speist sich das Programm der „Tiffany’s“, einer Tanzband. Im wirklichen Leben stieg Strunk dort als Saxophonist ein, in der DT-Fassung spielt Moritz Pliquet als Heinzer den Bass. Zu Beginn der Geschichte ist das seine Chance, dem problematischen Alltag mit seiner psychisch kranken Mutter zumindest zeitweise zu entfliehen. Zwölf Jahre tingelt er schließlich mit den Gute-Laune-Muckern. Die schwierigen Gespräche zwischen Heinzer und seiner Mutter, von Bühnenbildner Florian Barth sehr geschickt mit einer gespiegelten Einfamilienhaussiedlung auf Leinwand bebildert, leben ähnlich von Wiederholungen wie die Schützenzeltabende, die Barth üppig mit glitzernden Papierschlangen ausgestattet hat. Das Programm solcher Feiern mit Schlichtmusik und manchmal auch ganz schlimmen Witzen ist normalerweise nicht dazu angetan, ein Theaterpublikum einen Abend lang zu unterhalten. Dass das im DT dennoch funktioniert, liegt an einigen entscheidenden Schlüsselfaktoren. Zu allererst: Dort agieren Menschen, die trotz aller Klischees tatsächlich viel Menschliches zeigen. Pliquet beispielsweise gibt den Heinzer sehr sympathisch zwischen seiner Liebe zu Mutter und Musik und seinem stetigen Abgleiten in die düstere Welt der Schlager, Drogen und Langeweile. Gaby Dey hat als bettlägerige Mutter einen sehr eingeschränkten Wirkungskreis, doch den bespielt sie großartig mit ganz viel Würde. Auch Paul Wenning ist als Wirt Hans Pape ein bemerkenswerter Zeitgenosse. Er kennt sich perfekt aus in der untersten Schublade deutschen Dumpfhumors und ist Heinzer doch ein so guter Freund. Michael Meichßner findet einen gangbaren Weg zwischen billigem Anheizer und großem Gefühl. Das Premierenpublikum applaudiert im Stehen und fordert Zugaben.

Die 80er Jahre skurril zwischen Drama und Disco

Als Riesenspektakel beging das Deutsche Theater die Premiere von „Fleisch ist mein Gemüse“. Mit viel Applaus, Ovationen, Mitklatschen, Mitsingen und Mittanzen wie im Popkonzert feierte das begeisterte Publikum. Eine öde Neubausiedlung am Ortsrand führt in die Tristesse der 80er Jahre. Davor liegt dösend der von starker Akne geplagte Heinz und beklagt seine Erfolglosigkeit als Musiker und bei den Frauen. Rettung scheint zu nahen, als Heinz bei der Tanzband „Tiffanys“ als Bassist einsteigen kann. Doch damit nimmt sein Weg in die Depression erst recht Fahrt auf. Fortan tingelt er von Dorffest zu Dorffest. Antje Thoms hat die Örtlichkeiten sehr zum Spaß der Zuschauer nach Bovenden, Northeim und Ebergötzen verlegt. Von der Decke hängen Glitterbänder, hinter der Theke steht ein ewig nörgelnder Wirt, im Hintergrund spielt die hervorragende Band, herrlich schrill in pinkfarbenen Smokings. Vor allem die Einlagen des absolut authentisch spielenden Michael Meichßner als Bandleader Gurki zählen zu den Höhepunkten und lassen die Grenze zwischen Drama und Disco verwischen. Doch die Festbesucher erweisen sich als schwer in Stimmung zu bringen, das Niveau der Gassenhauer hat keinen Boden nach unten. Leise und als wohltuendes Gegengewicht verkörpert Pliquet Heinzers Verzweiflung. Alkohol, Tabletten und Selbstekel begleiten seinen Verfall und lassen ihn im apokalyptisch ansteigenden Rausch fast verloren gehen. Tiefe Depression in der Dorfdisco. Doch dann reißt Gurki die irreal anmutende Situation noch einmal herum. Die Aufführung endet mit einem überraschenden Paukenschlag.

Kakophonie aus Alkohol, Volksschlager und Schützenfest

Die nicht eben kleine Bühne des Theaters ist voll. Zwanzig Schauspieler stehen, singen und tanzen dort für eine musikalische Revue größeren Ausmaßes. Heinz Strunk ist der Antiheld dieser Geschichte, er fristet im tristen Vorort einer tristen Stadt ein außerordentlich tristes Dasein. Bis er schließlich einer Tanzmusikkapelle beitritt, um so wenigstens irgendwie seinem Traum, als Musiker Geld zu verdienen, nahe zu kommen. Moritz Pliquet spielt den verpickelten Looser, der vom Rockstar-Dasein träumt und stattdessen Schlager von „Klaus und Klaus“ nachspielt, mit angewinkelten Armen und stets leicht schräg stehend. Auf die Erlösung wartet die Bühnenversion des Tanzsmuckers wider Willen vergeblich, im Gegenteil, Antje Thoms hat das Stück als eine Art Blick auf die hässlichen Seiten der 80er Jahre mit dem bösen Witz der Vorlage, aber ohne deren Optimismus inszeniert. Schlagwortartig geht es um die großen Themen des Jahrzehnts, eingebettet in eine Kakophonie aus Alkohol, Volksschlager und Schützenfest. Eigentlich geht es in der Göttinger Aufführung für die Protagonisten immer nur bergab, allerdings stilecht. Kostüme, die den Geist der 80er förmlich atmen und ein Bühnenbild, das mit tausenden von der Decke hängenden Glitzerfäden den schönen Schein, hinter dem die Leere lauert, zu unterstreichen scheint. Strunk charakterisiert in seinem autobiografischen Roman aber nicht nur die Zeit, sondern auch sich selbst und die Band, mit der unterwegs war. Michael Meichßner spielt den skurrilen Bandleader Gurki, er erinnert dabei an eine schnellere Version von Christopher Walken in einem seiner besseren Filme: eine öffentlich immer gutgelaunte Clownsfigur, die den schmierigen Animator mit ebenso schmierigen Sprüchen gibt, hinter dessen greller Fassade allerdings alles nur Schein ist. Die Musiker auf der Bühne klingen genau so, wie man sich eine Profitanzmusikband vorstellt – gut gelaunt und nahezu fehlerfrei. Das Bühnenbild ist großartig, die Stimmung dicht und originär, die Gagdichte hoch. Für das Ensemble gilt dasselbe wie für die Tanzmusikband: „Wir sind schließlich Profis!“

Bejammernswerte Existenzen gnadenlos gut in Szene gesetzt

Hier, im „Braunen Hirsch“ oder im „Deutschen Haus“ gehen zeitgeschichtliche Ereignisse wie Tschernobyl oder die Challenger Katastrophe ebenso unter wie der Fall der Mauer, hier schwingen abgehalfterte Showstars wie „Taco“ oder die „Goombay Dance Band“, deren bejammernswerte Existenzen gnadenlos gut in Szene gesetzt sind, das Zepter. Star dieser Scheinwelt ist Michael Meichßner alias Gurki, seines Zeichens Bandleader und Stimmungskanone. Gekonnt verkörpert er den platten Volksfestbaren, weit von Kunst entfernt, gleichwohl mitreißend und nie um einen Spruch verlegen. Doch bei allem Krawall, mit dem Meichßner und Wenning sowie die durchweg gut aufgelegten Nebendarsteller ihre Auftritte auch auf die Bühne bringen, die Figuren bleiben doch in einem sich stetig wiederholenden Ablauf gefangen. Das Geschehen im Festzelt setzt so auf anderer Ebene Heinzers häusliche Monotonie mit den sich ständig wiederholenden Wortfragmenten seiner Mutter fort. Es scheint fast, als wolle Antje Thoms auf diese Weise das Ensemble selbst als Teil der Kulisse verwenden, vor der einzig Heinz einen Blick unter die Oberfläche gestatten darf. Moritz Pliquet stellt die Entwicklung seines Charakters, ebenso wie dessen zynische Selbstzerfleischung und die Verzweiflung ob der ernüchternden Perspektive als „Tanzmucker“ sehr überzeugend dar.  Seinen Höhepunkt findet dies beim großen Finale mit Zugaben, Tanzeinlagen der Zuschauer und Freibier. Die Menge tobt, die Stimmung kocht über, doch Heinzer ist isoliert – mechanisch sein Instrument bedienend, bleibt er ein Fremdkörper. So hat das vergnügliche Spektakel auch eine gehörige Portion Melancholie zu bieten und ist im Grunde genommen bei all der guten Laune, die produziert wird, eher Tragödie als Komödie, und dank Gurki auch ein ganz großer Abend.

Luftschlangen, Tanzmusik, Frittiertes und Bier

Wer sich die Inszenierung von Heinz Strunks Fleisch ist mein Gemüse im Deutschen Theater Göttingen anschaut, kann nicht mehr sicher sein, ob er im Theater oder auf dem Schützenfest gelandet ist. Heinzer liegt lustlos auf dem Boden und schnippelt an ein paar Grashalmen rum, die aus einem Blumentopf vor seiner Nase ragen. Hinter ihm das Panorama einer nichtssagenden Reihenhaussiedlung. Der Alltag des verpickelten jungen Mannes, der immer noch bei Mutti auf dem Dorf wohnt, besteht aus fernsehen, onanieren und saufen. Die einzige Frau in seinem Leben ist seine kranke, depressive Mutter, mit der er sich auf stundenlange Nein-Doch-Streitereien einlässt. Als er schließlich das Angebot erhält, bei der Tanzkapelle Tiffany´s einzusteigen, ist er hellauf begeistert. Ausgestattet mit Sonnenbrille, Omas Pelzmantel und Kippe im Mund, erhofft er sich durch die Tanzmusik das Ende der Sozialhilfe und den Beginn einer großen Karriere. Und schon weicht auch die öde Reihenhausfassade einem glitzernden Luftschlangenregen, gleichzeitig beginnt die Band zu spielen und es kommt Leben in die Alltagstristesse auf der Bühne. Ebenso wie Heinzer erhält auch der Zuschauer den Eindruck, dass ihn nun etwas Großes erwartet. Was der Zuschauer allerdings schon bald ahnt, wird schließlich auch dem Möchtegern-Star nach dem hundertsten Schützenfest klar, bei dem sich die betrunkene Dorfgemeinde im Luftschlangenmeer verheddert: Tanzmusik ist ein Teufelskreis. Bisher war das ja alles ganz lustig mit den altbekannten Schlagern und den platten Witzchen, über die man dann doch lacht, weil sie so gut in die Tragikomödie passen. Doch nach der Pause gibt der Vorhang unverändert den Blick auf die abgerissenen Luftschlangen frei. Hat denn niemand in der Zwischenzeit das Bühnenbild aufgeräumt? Nein, denn statt des erhofften Wendepunkts geht es nun so richtig den Bach runter. Während der ersten Hälfte saß die unzufriedene Mutter die ganze Zeit am Bühnenrand. Immer dann, wenn Heinzer sich in der Welt der Tanzmusik verloren hatte, fing die Mutter auf einmal an zu jammern und holte ihn und das Publikum zurück in die traurige Realität. Nun sitzt Heinzer an ihrer Stelle und spricht in eine Urne. Die Mutter ist gestorben. Doch da geht’s schon mit der Hitparade weiter, denn das Wichtigste ist und bleibt „geil abzuliefern“. Ein Hit jagt den anderen. Spätestens nach „You´re my heart you´re my soul“ weiß man als Zuschauer nicht mehr so recht, wo man gelandet ist. Eigentlich ist alles furchtbar tragisch. Heinzer erbricht sich auf der Bühne und rutscht erbärmlich auf dem Luftschlangenschleim herum. Die Geschichte dieses jungen Mannes ist schlichtweg sehr traurig, gleichzeitig soll man die ganze Zeit klatschen, lachen und singen. Was ist es denn nun: Tragödie oder Komödie? Die Kostüme werden immer schriller, die Musik immer schneller. Das scheint hier offensichtlich so eine Art Konzert zu sein, bei dem man praktischer Weise jeden Song mitsingen kann. Und am Ende artet alles zu einer großen Sause aus, bei der die Zuschauer der ersten Reihe gemeinsam mit den Schauspielern auf der Bühne tanzen. Unermüdlich spielt die Band weiter, die Stimmung ist ausgelassen. Zwischendurch fällt der Blick auf Heinzer, der unauffällig am Rand steht und mit verzweifelter Miene an seinem Bass zupft.