„Kaltschnäuzig, ganz ohne Einfühlungs-Eifer, aber mit viel Humor nähert sich Regisseurin Antje Thoms der opernhaften Sprechpartitur. Prima.“

2009, Inszenierung am Saarländischen Staatstheater / Sparte4

Text: Felicia Zeller Regie und Kostüme: Antje Thoms Dramaturgie: Holger Schröder Fotos: Andrea Seifert / Stage Picture

Mit: Gabriela Krestan, Dorothea Lata, Saskia Petzold

„SETZEN WIR DAS PROBLEM DOCH MAL HIER AUF DEN STUHL UND BETRACHTEN ES VON AUSSEN.“

Der Kaspar Hauser von heute heißt Dennis, Lisa, André, Chantal, Kevin, Lea-Marie oder Jessica und wird vernachlässigt, geschlagen, gequält, umgebracht. Die Tageszeitungen melden Tag für Tag das Unbeschreibliche, Unfassbare dieser Fälle. Und jedes Mal stellt sich reflexhaft die Frage, wer das hätte verhindern können oder müssen. Wo waren die Zuständigen? Felicia Zeller hat sich in den Alltag deutscher Sozialämter begeben und drei hoffnungslos überforderte Sozialarbeiterinnen zu den Heldinnen ihres rasend schnellen Stücks gemacht.

Bravourleistung

„Kaspar Häuser Meer“ ist ein ebenso satirisch-amüsantes wie bitter-grausames Stück über Kindesmisshandlung, am Sonntag war in der Sparte 4 des Staatstheaters Premiere, die Darstellerinnen wurden gefeiert. Welch eine erlösungslose Erregungs-Leere! Kaltschnäuzig, ganz ohne Einfühlungs-Eifer, aber mit viel Humor nähert sich Regisseurin Antje Thoms der opernhaften Sprechpartitur. Prima. Denn Zeller hat kein moralinsaures Problem-Lehr-Stück geschrieben, auch keine rührende Sozialarbeiterinnen-Doku-Soap, sondern eine Psycho-Farce auf unser aller Taten- und Hilflosigkeit. Mit bewundernswerter Konzentration durchpflügt das fabelhafte Darstellerinnen-Trio im Turbo-Tempo die Textmassen und jede Rolle formt sich zur satirischen Klein-Tragödie. Diese Büro-Zellen-Gemeinschaft wird durchtobt von Versagensängsten, Fürsorge-Attacken, Missgunst, verzweifelten Helfer-Energien. Eine kafkaeske Welt – ohne Geheimnis und umso niederschmetternder. Ein selten starkes Stück der sozialen Aufmerksamkeit – die Sparte 4 hat damit eine Hürde genommen zu mehr theatralem Aufwand und Lust.

Stimmig, rasant, todernst und trotzdem lustig

Antje Thoms hat die Sprachetüden über den alltäglichen Wahnsinn im Jugendamt inszeniert – stimmig, rasant, todernst. Kein Spaß und trotzdem lustig: Drei Frauen wollen in „Kaspar Häuser Meer“ helfen. Und alle drehen sie am Rad. Sie sind Sozialarbeiterinnen und sie sind verzweifelt. Wenn man hier nach 75 Minuten rauskommt, aus diesem theatralen Jugendamt, dann muss man erstmal tief durchatmen… Als die überarbeitete Silvia die Frage für sich klären will, ob eine bestimmte Mutter nun in der Lage ist, für ihr Kind zu sorgen oder nicht, da meint sie: „Setzen wir das Problem doch mal auf den Stuhl und betrachten es von außen.“ Ein gestalttherapeutischer Trick, der ihr zwar wenig hilft, das Publikum aber zum Lachen bringt. Es lacht und lacht. Und das ist vielleicht das Schönste an diesem Abend, dass es Autorin Felicia Zeller gelungen ist, ein stimmiges Stück über ein todernstes Thema zu schreiben und dabei trotzdem humorvoll zu bleiben. Das hier sei aber bitte sehr kein „Problemstück“, sagt Felicia Zeller, ihr Anliegen sei es vielmehr, diese Themen zu durchleuchten und diese Emotionen auf „normale Menschen“ zu übertragen. „Durch Sprache. Ich bin ein Fan von Sprechtheater!“ Und Antje Thoms muss es wohl genauso gehen, denn unter ihrer Regie lassen Saskia Petzold, Gabriela Krestan und Dorothea Lata ein wunderbar akzentuiertes Jugendsozialarbeiterinnengewitter über uns niedergehen. Dass die drei dabei Akten stapeln, Papier in die Luft fliegen lassen oder sich wie ferngesteuert bewegen, passt auch. Am Ende entlassen sie uns heiter und nachdenklich zugleich in eine dunkle Welt, in der vieles anders werden muss.

Erstaunlich, hervorragend und bemerkenswert

So lässt sich die Leistung der drei Darstellerinnen beschreiben. Stilistische Mittel werden wohl dosiert genutzt, sorgen für Nuancen. Trotz Themen wie Kindesmissbrauch ist der Abend nicht bedrückend, sondern beschwingt – aber auch zum Nachdenken anregend.

Traurig und bedrückend, aber auch grotesk und urkomisch

Überall Akten, überall Ordner, Akten und Ordner voller Fälle, voller Schicksale. Die um die es geht, sieht man nicht. Nirgendwo vernachlässigte Kinder, nur Ordner, überall. Wo bleiben die Menschen, wo bleiben die Kinder, wo bleiben die Sozialarbeiterinnen? Die Schicksale werden per Fließband abgeliefert. Wir Zuschauer werden zu Zeugen, wir werden in den Jugendamtsalltag hineingezogen, unruhig beobachten wir. Drei Frauen reden andauernd. Geschichten über unfähige Eltern, Sätze über misshandelte Kinder, Wörter über private Probleme. Das ist traurig und bedrückend. Das ist in der phantasievollen Montage des Textes aber auch grotesk und urkomisch. Ein klasse Theaterstück. Virtuose, vielseitige Schauspielerei. Ein tiefsinnig-verrücktes Stück. Die Frage ist nicht, wo ist der Mensch, sondern was bleibt vom Menschen, zwischen all den Ordnern, Fällen und Alltagsproblemen.