„Der Höhepunkt einer dichten, temporeichen, klug durchkomponierten Inszenierung. Ein Autist enttarnt den Wahnsinn des normalen Lebens. Supergutes Theater, ein superguter Hauptdarsteller, supergute Ideen. So macht Überforderung Spaß. Die neue Spielzeit startet sofort richtig durch, ein großer Wurf.“
Auf der Long-List für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST

2014, Inszenierung am Saarländischen Staatstheater

Text: Simon Stephens nach dem Roman von Mark Haddon, übersetzt von Barbara Christ Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Nicola Käppeler Ausstattung: Florian Barth Musik: Fred Kerkmann

Mit: Marcel Bausch, Roman Konieczny, Sophie Köster, Pit-Jan Lößer, Klaus Müller-Beck, Christiane Motter, Saskia Petzold und Babette

„Vielleicht ist es einfacher, allein zu leben und sich um irgendeinen blöden Köter zu kümmern, als das Leben mit anderen menschlichen Wesen zu teilen.“

SUPERGUTE TAGE ist zunächst eine mysteriöse Kriminalgeschichte. Christopher Boone – Asperger-Autist, 15 Jahre, drei Monate und zwei Tage alt – ist ihr Erzähler und Detektiv. Christopher ist gern allein, er weiß beinahe alles über die Mathematik und das Universum, doch nur sehr wenig über Menschen, deren Emotionen ihm so fremd sind, dass er sie auswendig lernen muss. Christopher geht niemals weiter als bis zum Ende der Straße, in der er wohnt. Nur einmal macht er eine Ausnahme: als er mit Ermittlungen im „Fall Wellington“ beginnt, die ihn zwangsläufig in eine undurchschaubare und bedrohliche Welt führen, welche allen anderen völlig normal scheint, und die nicht nur den Mörder des Nachbarhundes, sondern auch die Geheimnisse und Abgründe einer Kleinfamilie ans Tageslicht bringen. So verlässt Christopher notgedrungen sein kleines, strikt geordnetes Leben.

Und plötzlich, durch die Augen des Außenseiters schauend, dessen Leben einer ganz anderen als der uns bekannten Logik folgt, erscheint uns das Alltagsverhalten unserer Mitmenschen mit all ihrer Emotionalität suspekt und rätselhaft. Die Frage nach den scheinbar selbstverständlichen Normen, auf denen unser Zusammenleben beruht, stellt sich neu, die eigene Wahrnehmung der Realität wird unweigerlich hinterfragt.

Supergutes Theater

Ganz oft kommt Christopher Boone ganz einfach nicht klar. Aber jetzt ist Wellington tot, der Hund der Nachbarin, brutal niedergestochen mit einer Forke, einer Mistgabel, die den halben Abend lang wie ein augenzwinkerndes Mahnmal zwischen Bühne und Zuschauerraum aufragt. Um diesen Mord aufzuklären wagt sich Christopher in die seltsame Welt der angeblich „normal durchgedrehten“ Leute in seiner Nachbarschaft. Wie die so Leben können auch wir im Publikum nur ahnen. Bühnenbildner Florian Barth verfrachtet uns nämlich dahin, wo auch die autistische Hauptfigur steht, nach draußen. In der ersten Hälfte der Inszenierung starren wir permanent auf eine hohe unbehandelte Sperrholzwand, die Rückseite einer Kulisse, durch die wir beim Einlass mal kurz schlendern dürfen und die wir danach nie wieder zu Gesicht bekommen. Ein einfacher, aber wirkungsvoller Einfall. Hinter den Fassaden des vermeintlich Selbstverständlichen lauern unangenehme Fragen. Lächerlich, diese Lügengeschichten, mit denen wir uns so durch den Alltag wursteln und die plötzlich auffliegen, wenn jemand das Spiel mit den Konventionen nicht mitmacht. Christopher, der Autist, mischt sie alle auf, weil er mit dem schön angepinselten Schein nichts anzufangen weiß. Roman Konieczny spielt diesen nett-nervigen Außenseiter genial konzentriert, ist zweieinhalb Stunden lang perfekt präsent, jeder Blick stimmt, jede Geste. Als Christopher merkt, dass sein Vater ihn jahrelang angelogen hat und dass seine Mutter nicht tot ist, sondern sich vor lauter Überforderung mit einem Nachbarn aus dem Staub gemacht hat, da rast dieser Schauspieler, als ginge es um sein eigenes Leben. Und dann holt Regisseurin Antje Thoms zu ihrem nächsten packenden Einfall aus: nach der Pause ist die Sperrholzkulisse weg, die Zuschauer kriegen Kopfhörer auf die Ohren und einen Eindruck davon, wie sich ein Autist fühlen könnte, wenn er sich allein auf den Weg in eine Großstadt macht. Bahnhöfe, Züge, U-Bahnen, Reizüberflutungen die uns im Alltag kaum noch bewusst werden. Stroboskoplicht zuckt, Bühnennebel zieht durch den Raum, Menschen rennen hektisch hin und her. Der Höhepunkt einer dichten, temporeichen, klug durchkomponierten Inszenierung. Ein Autist enttarnt den Wahnsinn des normalen Lebens. Supergutes Theater, ein superguter Hauptdarsteller, supergute Ideen. So macht Überforderung Spaß. Die neue Spielzeit startet sofort richtig durch, ein großer Wurf.

Absolut sehenswert

Wie unfassbar chaotisch unser Alltag für jemanden ist, der ständig alles wahrnimmt – das erlebt der Zuschauer am eigenen Leib. Das geht an die Substanz, ist aber gerade deshalb absolut sehenswert!

Komplexe Bilderwelt

Die Welt ist für Christopher Boone so etwas wie ein „Gesamtpatchwork“, nur das er es nicht schafft, die Stücke miteinander zu verbinden, sie zu einem logischen Muster zu fügen. Er ist Autist, sieht und hört alles ungefiltert. Christopher ist eine Figur aus Mark Haddons Roman „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“. Eine unsentimentale doch berührende Geschichte – in der Rolle des autistischen Jugendlichen brilliert Roman Konieczny. Regisseurin Antje Thoms geht einen ungewöhnlichen Weg und nimmt die Zuschauer auf diesem Weg mit. Und es klappt. Das Premierenpublikum war begeistert.

Szenen aus Christophers Leben verbinden sich mit Texteinblendungen, Gedanken und Videos zu einer komplexen Bildwelt. Regisseurin Antje Thoms lässt die Zuschauer die innere Welt Christophers immer intensiver miterleben. Überall Stimmen, Menschen, Sinneseindrücke, Informationen. Für den Autisten Stress und Chaos pur, für die Zuschauer auch. Ein wilder Mix aus lauter Musik und Sprachfetzen, eine abgeschottete Klangwelt, der man sich nicht entziehen kann. Das wird immer anstrengender und ist immer weniger auszuhalten. Aber immer mehr bekommt man als Zuschauer ein Gefühl dafür, was es für einen Autisten heißt, dauernd diesem Bombardement an Sinneseindrücken ausgesetzt zu sein. Ein genialer Regiekniff, der auch Dank Roman Konieczny so gut funktioniert. Er spielt großartig, authentisch autistisch, mitreißend, anrührend. Am Ende reißt die Reizüberflutung ab. Die Zuschauer fühlen Erleichterung und erleben mit Christopher so etwas wie Zuversicht.

Mitten im Kopf der Figur

So wie Christopher ins Unbekannte reist, reist der Zuschauer ins Innenleben Christophers. Die Umsetzung dessen ist die große Stärke der Inszenierung von Antje Thoms. Der Weg zum Zuschauerraum in der Feuerwache führt durch labyrinthische Gänge (Christophers Hirnwindungen?) zur Bühne, die anfangs beengend schmal ist: Ihr Hintergrund, wenige Meter vor der ersten Zuschauerreihe, wirkt wie die Wand eines Lagerraums. Die Welt, so scheint es, spielt sich dahinter ab, dringt durch Störgeräusche hinein, durch sich öffnende Türen. Gedanken von Christopher werden an die Wand projiziert, ebenso Erinnerungen an die Mutter – man fühlt sich mitten im Kopf der Figur, Textzeilen an der Wand überlagern sich, als liefe das Hirn mit Wörtern voll. Im zweiten Teil öffnet sich die Bühne weit nach hinten. Christopher ist unterwegs, per drahtlosem Kopfhörer werden die Theatergänger Geräuschen und pulsierender Electro-Musik ausgesetzt, Stroboskoplicht flackert im Brutalo-Staccato, Krach und Stille wechseln fast schmerzhaft, Menschen ziehen hektisch ihre Kreise um Christopher. Die Überforderung, der Druck, die mangelnde Übersicht werden körperlich spürbar. Dieser Teil ist furios und der Höhepunkt des Abends. Gut auch, dass Roman Konieczny den autistischen Christopher nicht sentimental spielt; er lässt die Figur auch an die Nerven gehen, mit monotonen Monologen, mit Ichbezogenheit. Ihn und das gute Ensemble bejubelt das Publikum.

 

Beeindruckende Folter im Theater

Wie es sich anfühlt, wenn das Gehirn keine Filter hat? Wenn jeder Sinneseindruck, jede Stimme, jedes Geräusch gleichstark auf einen einprasselt? Es fühlt sich an wie Folter. Es ist ein permanenter Angriff auf die Nerven, eine Kakophonie der Laute und Gespräche. Einfach furchtbar. In der Inszenierung des Stücks „Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone“ kann man als glücklicher Mensch, dessen Filter im Gehirn funktionieren, ein Gefühl dafür bekommen, was Menschen aushalten müssen, die als Autisten geboren werden. Im zweiten Teil des Abends lässt Regisseurin Antje Thoms Kopfhörer verteilen, durch die man alle Geräusche, Stimmen, Dialoge gleich laut aufs Ohr bekommt. Es ist schrecklich. Nicht wenige Zuschauer ziehen den Kopfhörer entnervt nach ein paar Minuten aus, weil man das Gewirr im Hirn einfach nicht aushält. Genau das ist die Stärke der Inszenierung. Bei aller Komik, die in den oft skurrilen Marotten der Hauptfigur Christopher Boone liegt: Vor allem erlaubt das Stück den Einblick in eine verborgene Welt und hilft dabei, zu verstehen, warum sich Menschen, die am Asperger-Syndrom leiden, manchmal so scheinbar seltsam verhalten. An diesem Freitag und Samstag steht das Stück wieder auf dem Spielplan. Wahrscheinlich werden Sie für diese Vorstellungen keine Karte mehr bekommen. Aber für die Zusatzvorstellungen. Greifen Sie zu.

Geheimtipp

Das Stück um den 15-jährigen Asperger-Autisten Christopher Boone feierte in der so kraftvollen wie ungewöhnlichen Inszenierung Premiere und avancierte sofort zum Geheimtipp.

 

Die besondere Wahrnehmungs- und Erlebenswelt des Autismus

Anne-Rose Kramatschek-Pfahler, Geschäftsführerin des Autismus-Therapie-Zentrums, betont, dass „das von der Regie und dem Ensemble mit größtem Respekt, höchster Sensibilität und Authentizität umgesetzte Theaterstück sowohl für die von Autismus betroffenen Menschen und ihre Angehörigen als auch für unsere Facheinrichtung eine wunderbare ‚Bühne‘ ist. Die Inszenierung nimmt die Besucher einfühlsam und dennoch eindrücklich – mit allen Sinnen erlebbar – mit auf die Reise in die besondere Wahrnehmungs- und Erlebenswelt des Autismus. „Supergute Tage …“ ist ein stark und überzeugend gespieltes, intensives, mitunter betroffen, aber auch Mut und Freude machendes Theaterstück in dem die Besucher grundlegendes über Persönlichkeit, Besonderheiten, Ressourcen und Stärken autistischer Menschen sowie deren veränderten Blick auf die nicht autistische Welt erfahren können. Danke für diesen wunderbaren Theaterabend!“