"Die endliche Logik existiert nicht. Dafür wird an dieser Uraufführung sämtliche Theaterlust gleichzeitig befriedigt: Unterhaltung wie im Schauspielhaus (aber raffinierter) und inhaltliche Auseinandersetzung wie meistens in der Winkelwiese (aber komplexer) plus ein Ensemble von vier gänzlich unterschiedlichen Typen, denen zuzusehen allen ein Hochgenuss ist. Jens Nielsen und Antje Thoms behaupten ihren Ruf als Dream-Team erneut."

2008, Uraufführung von Trainingslager

Konzept und Idee: Antje Thoms und Jens Nielsen Text: Jens Nielsen Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Walter Gratz Ausstattung: Marcella Maichle Lichtdesign: Michael Omlin Fotos: Carola Hölting Mit: Vivianne Mösli, Jens Nielsen, Dominique Müller, Ingo Ospelt, Hansruedi Twerenbold

Koproduktion mit Theater Winkelwiese Zürich, Tuchlaube Aarau, Schlachthaustheater Bern Gefördert durch Präsidialdepartement der Stadt Zürich, Pro Helvetia, Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Migros Kulturprozent, Stanley Thomas Johnson Stiftung, Kulturstiftung Winterthur, Ernst Göhner Stiftung, Schweizerische Interpretenstiftung, Abteilung Kulturelles Stadt Bern, Amt für Kultur Kanton Bern, Burgergemeinde Bern

„Zu Anfang sind wir niemand
Am Ende sind wir tot
In der Mitte kämpfen wir
Im Zweikampf
Und feiern den Etappensieg wie die Unendlichkeit“
 

Vier Männer stehen um ein Grab. Im Grab liegt eine Frau. Die vier Trauernden sehen sich mit ungeklärten Fragen konfrontiert. Wie starb die Frau, wen liebte sie am meisten, wie gestaltete sich das Zusammenleben und seit wann? Die Männer, unfähig mit ihrer Trauer umzugehen, beginnen zu streiten: um Erinnerungen, um Vorrechte, um Status, um Schuld. In keinem Punkt herrscht Einigkeit. Sie rekapitulieren das Leben der toten Frau, bemächtigen sich ihrer Habseligkeiten und steigern sich in immer absurdere Lügengebilde. In einem peniblen Streit um erfundene Details und die Größe der Verlusterfahrung zerstört das Männerquartett langsam alle Gemeinsamkeiten, Erinnerungen, Gewissheiten, kurz: seine eigene Geschichte. Die Geschichte einer großen Liebe.

Absurdes Drama auf dem Friedhof

Ein Sarg, der aussieht wie ein Schränkchen, darum herum vier Männer, die etwas verloren dastehen und trauern – bloß wissen sie nicht genau, um wen. Es muss eine Frau sein, einzig darüber sind sie sich einig. Das ist eine gute Ausgangslage, nicht für die vier Trauernden, aber für den Theaterabend. Tatsächlich darf sich das Publikum bei der Berner Premiere des Stücks „Tag der Dachse“ von Jens Nielsen auf einen fulminanten, absurden, lustigen und abgründigen Start gefasst machen. Herrlich die vier Männer, die sich in Erinnerungen an die mysteriöse Verstorbene und das eigene Leben verlieren. Die sich gegenseitig darin überbieten, was sie mit ihr geteilt haben, wer mehr von ihr besitzt, wer gar ihre eingelegte Hand liebkosen darf. Dabei laufen Dominique Müller, Ingo Ospelt, Hans-Rudolf Twerenbold und Autor und Schauspieler Jens Nielsen zu Hochform auf.

Dream-Team

Die endliche Logik existiert nicht. Dafür wird an dieser Uraufführung sämtliche Theaterlust gleichzeitig befriedigt: Unterhaltung wie im Schauspielhaus (aber raffinierter) und inhaltliche Auseinandersetzung wie meistens in der Winkelwiese (aber komplexer) plus ein Ensemble von vier gänzlich unterschiedlichen Typen, denen zuzusehen aber allen ein Hochgenuss ist. Vielleicht dauert die leichte Entrückung länger als üblich, dafür ist der Spass auch grösser als üblich. Jens Nielsen und Antje Thoms behaupten ihren Ruf als Dream-Team erneut.

Grusel-Touch

„Tag der Dachse“ vereint am Grab einer toten Frau vier Rivalen, die sich zwischen Machtspielen und Trauerritualen verlieren. Zusammengefunden haben Heinrich der Große, Eugen oder Benz, Hänsel und etwas und Pianissimo, die sich umgehend als „Quartett der Dachse“ präsentieren. Die Vier können austeilen und müssen einstecken. Daran jedenfalls kann kein Zweifel bestehen. Bei aller Verrätselung schimmert die aufscheinende Tragikomik eines Geschehens; einmal mehr zum Zug kommen der sprachspielerische Verve und der Flair für einen nie in blanke Humorigkeit abgleitenden Plot, der die Reflexion des (Rollen-) Spiels einschließt. „Ich möchte einmal die alte Fassung des Stücks spielen“, sagt Eugen gegen Schluss. Zur Diskussion steht ein Krimi. Antje Thoms Inszenierung hat auch so Grusel-Touch.

Trauerarbeit

„Die Zeit heilt alle Wunden“, heißt es. Wie gelogen das sein mag, beweisen die vier Männer am offenen Grab, denen keine Totenrede zur Trauerarbeit verhilft, mit einer kleinen tragikomischen Übung von schlagender Aussagekraft. Immer wieder sammeln sie sich unter dem Aufruf „Warten wir!“ und halten die Luft an, bis sie nicht mehr können. Verglichen mit diesem Bild wäre eine Erklärung platt: Warten auf das Nachlassen des Verlustschmerzes bedeutet nicht, diesen ruhig vom heilenden Zahn der Zeit abnagen zu lassen, sondern Aushalten, bis der Atem ausgeht. Und wenn man gewiss sagen kann, dass alle vier Männer die Frau geliebt haben, dann ist mit der Liebe jene zum Tod komplementäre Unerklärlichkeit bloß benannt, die das Stück besser, nämlich unklar, darstellt.

Jede Menge Drive

Da hocken vier Männer im Torf eines Friedhofs. Die Hemden kleben an ihren verschwitzten Körpern, die Gesichter sind mit Erde beschmiert. Nach dem Wodka macht eine Pfeife die Runde. Und die Truppe findet sich zu einem letzten Marschlied. Vergessen scheinen die vorangegangenen Sticheleien, die Messerstechereien und widerborstigen Tanzeinlagen, die krampfartigen Tobsuchtsanfälle und die Querelen um eine abgehackte Frauenhand. Nielsen schafft hinreißende Dialoge, lässt Erwartungshaltungen ins Leere laufen, spielt mit dem Wortsinn oder führt Kommunikationsprobleme ad absurdum. Wo Antje Thoms in ihrer Inszenierung auf diese Sprache setzt, hat der Theaterabend jede Menge Drive.

Eindringliche Beschwörung

Warten. Worauf? Jedenfalls nicht auf Godot, auch wenn das kein so abwegiger Gedanke ist. Denn die vier Männer unterschiedlichen Alters, die in Jens Nielsens Stück um ein Grab herum stehen, warten ebenso vergeblich wie Becketts Helden. Es ist ein Sprechen in Widersprüchen, es sind Sätze ohne Verben, es sind beschnittene Floskeln, und es sind vielsagende Auslassungen, mit denen der Autor die Situation poetisch verrätselt. Es sind vier Trauer-Zombies, die mit Gruselstimme „Ich vermisse jemanden“ brummen oder ein weinerliches „Vorbei!“ seufzen. Oder darüber sinnieren, weshalb es keine Luftbestattung geben soll. Die Inszenierung übersetzt diese unterschiedlichen Arten des Trauerns in konkrete Bilder: So wird um das Grab herum eine Grenze markiert, bis zu der das Erinnern reicht; jenseits beginnt das Vergessen. Oder die Männer bohren sich gegenseitig in den Wunden – mit stumpfen Theatermessern. Und der Jüngste der vier behält ein Stück von der Frau: ihre rechte Hand in einem Einmachglas, was in der grotesken Anlage des Dramas ganz folgerichtig ist. Es sind vier Liebende, denen Nielsen neben allem Gezänk auch Worte von einer surrealen Zärtlichkeit in den Mund legt. Daneben gibt es aber auch eine Menge pointierten Sprachwitz und verzweifelten Klamauk in den messerscharfen Dialogen. Die Lächerlichkeit dieser Existenzen angesichts der Nicht-Existenz und die schiere Bodenlosigkeit ihres Daseins – das ist, was dieses Stück so eindringlich und doch auf so luftige Weise beschwört. Wie singen doch die Dachse in ihrer Moritat: „Am Anfang sind wir niemand, am Ende sind wir tot.“

Frau Kretz empfiehlt: „Tag der Dachse“

Weil Schweizer Autorentheater nie so eigenwillig ist, wie wenn es Jens Nielsen schreibt. „Wenn man etwas nicht versteht, wartet man, bis meistens die Erklärung kommt.“, ein Schlüsselsatz im Stück „Tag der Dachse“, das derzeit im Schlachthaus läuft. Vier Männer stehen an einem Grab. Schritt für Schritt erfahren wir, was sie zu verdrängen scheinen, ihre Beziehung zur Toten, ihre Beziehung untereinander, den Grund, wieso sie da sind. Das klingt so erst einmal nach psychologisierendem Familiendrama, vielleicht gar nach Krimi, doch nicht so bei Nielsen! Der Autor fällt nicht ins gängige Bild des Schweizer Dramatikernachwuchses, viel zu verschroben und eigenständig sind seine Text, ein wilder Mix aus Sprachbeobachtungen und Absurditäten. Man krümmt sich vor lachen (ich jedenfalls) und käme nachher trotzdem nie auf die Idee, man hätte eben eine Komödie gesehen. Bei Nielsen kommt sie übrigens nie, die Erklärung, und das ist gut so.