„Thoms konzentriert sich in ihrer fulminanten, amüsanten, umjubelten Inszenierung weniger auf die bittere Identitäts- und Vertrauenskrise, die einem jungen Paar die Sicherheit seiner Gefühle raubt – Thoms geht es vielmehr darum, dass statt bloß einem Krug das ganze Rechtssystem „zerscherbt“ ist – und was die Gesellschaft daraus macht.

Ein turbulenter, sehr unterhaltsamer Abend und eine hochaktuelle Frage: Was wir von den Repräsentanten unserer Rechts- und Staatsordnung erwarten (dürfen), wird hier auf vergnügliche Weise verhandelt.“

2012, Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen

Text: Heinrich von Kleist Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Anna Gerhards Bühne: Florian Barth Kostüme: Katharina Meintke Musik: Fred Kerkmann Fotos: Isabel Winarsch

Mit: Gaby Dey, Klaus Eickhoff, Angelika Fornell, Paula Hans, Andreas Jeßing, Fred Kerkmann, Lars Koch, Nikolaus Kühn, Gerd Peiser, Wojo van Brouwer, Paul Wenning

„Es ist kein Grund, warum ein Richter, wenn er nicht auf dem Richtstuhl sitzt, soll gravitätisch, wie ein Eisbär, sein.“

Im kleinen Dorf Huisum ist ein Krug in die Brüche gegangen. Für Frau Marthe Rull scheint alles klar: bei einem nächtlichen Besuch im Zimmer ihrer Tochter Eve hat deren Bräutigam Ruprecht den Krug zerschlagen. Gleich am nächsten Morgen erscheint sie mit dem Indiz und allen Beteiligten vor Gericht, wo der Dorfrichter Adam kurzen Prozess machen soll. Gerichtstag in Huisum – für die Einwohner ein beliebtes Ereignis, doch heute ist alles anders. Adams Perücke ist nicht aufzufinden, frische Verletzungen zieren seinen Kopf, der Richter scheint verwirrt. Und seine Prozessführung bringt zunehmend Unklarheit in die Frage, wer denn nun den Krug zerbrach: Woher stammen Adams Verletzungen? Wer war der unerkannte Rivale, den Ruprecht angeblich bei Eve überrascht hat? Warum schweigt Eve? Und was zum Teufel hat Frau Brigitte wirklich gesehen? Gerichtsrat Walter, der auf seiner Inspektionsreise im Namen der Verbesserung der Rechtspflege auf dem platten Land in den Gerichtstag gerät, staunt über die rüden Sitten. Der Schreiber wartet auf seine große Chance, endlich selbst Karriere zu machen. Und Dorfrichter Adam verstrickt sich auf der Jagd nach sich selbst in immer neue Widersprüche.

Durch groteske Überdrehung der profanen Verhältnisse hinterfragt „Der zerbrochne Krug“ eine zutiefst scheinheilige Welt und legt das Räderwerk der Macht bloß: hinter der idyllischen Fassade kommen grenzenloser Egoismus, allgemeine Bestechlichkeit und Kriecherei zum Vorschein, der Huisumer Filz droht die Gemeinschaft zu zerstören.

Das zerscherbte System

Antje Thoms konzentriert sich in ihrer fulminanten, amüsanten, umjubelten Inszenierung weniger auf die bittere Identitäts- und Vertrauenskrise, die einem jungen Paar die Sicherheit seiner Gefühle raubt – Thoms geht es vielmehr darum, dass statt bloß einem Krug das ganze Rechtssystem „zerscherbt“ ist – und was die Gesellschaft daraus macht. Fassungs- und letztlich hilflos betrachtet Gerichtsrat Walter die Zustände, die Dörfler können sich jederzeit in einen besinnungslos feiernden oder gewaltbereiten Mob verwandeln und selbst der aufrechte Gerichtsschreiber Licht schielt bloß auf den Chefposten. Als Kniff, den Blick auf die Gemeinschaft zu lenken, dient Thoms der „Sender Freies Huisum“ mit Live-Musik, Werbung und Boulevard-Meldungen aus Kleists „Berliner Abendblättern“. Den „Dorffunk“-Mitarbeitern sind Korruption, Zeugenbeeinflussung und dergleichen ebenfalls schnuppe. Begünstigung, Untreue, Vorteilsannahme. Wie ein Mantra wiederholt Dorfrichter Adam: „Es ist kein Grund, warum ein Richter, wenn er nicht auf dem Richtstuhl sitzt, soll gravitätisch wie ein Eisbär sein.“ Ein turbulenter, sehr unterhaltsamer Abend und eine hochaktuelle Frage: Was wir von den Repräsentanten unserer Rechts- und Staatsordnung erwarten (dürfen), wird hier auf vergnügliche Weise verhandelt.

Vorläufer der Gerichtsshows

Leichtfüßig gelingt Antje Thoms mit ihrer Inszenierung der Sprung in die Gegenwart und der Bezug zur Jetzt-Zeit, Jingles und Werbeeinblendungen machen deutlich, dass der Krug als Vorläufer der Gerichtsshows herhalten kann. Die Idylle Huisumer Art hat Schunkelqualität. Der Spaßfaktor für Dorfrichter Adam scheint unbegrenzt. Das Publikum antwortet mit Szenenapplaus. Bei allem Schwankhaften versuchte Kleist mit der Komödie den Zeitenwechsel deutlich zu machen, dem „Zerbrochnen Krug“ liegt die Auseinandersetzung zwischen altem Gewohnheitsrecht und neuer Rechtsordnung zugrunde, personifiziert in Dorfrichter Adam und Gerichtsrat Walter. In Göttingen wird die bipolare Stellung zum Dreikampf. Schreiber Licht weiß die Gunst der Stunde zu nutzen. Anfangs zurückhaltend, duckmäuserisch und steif, schwingt er sich allmählich zum Richter seines Herren auf. Je mehr er den Zorn der Bürger ahnt, desto offensichtlicher sägt er am Stuhl seines Chefs – wer solche Mitarbeiter hat, der braucht keine Feinde. Andreas Jessing ist mehr als Gerichtsrat Walter, mit der Mimik und Gestik der internationalen Consulter-Liga ist er mal „good cop“, mal „bad cop“. Paul Wenning als Dorfrichter Adam ist die zentrale Figur der Aufführung. Er arbeitet alle Facetten einer selbstgefälligen Lokalgröße heraus. Man bewundert die Chuzpe, mit der er gegen seine Gegner vorgeht, man bewundert die Bauernschläue und als das Lügengebilde zusammenfällt, ein wenig auch den Menschen. Das Mitleid bleibt allerdings begrenzt, weil Adam die Grenzen, den Rubikon längst schon überschritten hat. Die Huisumer Bürger verwehren ihm denn auch den Abgang, selbst den in Unwürde. Die Vollendung findet nicht statt.

Gekonnte Respektlosigkeit

Antje Thoms Inszenierung hat einen Schwung und Knalleffekt, dass es Freude macht. Anfangs ist man noch skeptisch. Das Bühnenbild voller Getränkekisten, Unordnung und dann auch noch eine Radiostation mit sich stetig für die Gebühren bedankenden Moderatoren. Droht das Ganze nicht viel zu albern zu werden? Denn einfach nur bunte Unordentlichkeit reicht nicht aus, um zu überzeugen. Doch spätestens wenn der korrupte Dorfrichter Adam leidend aus seiner Kiste krabbelt, beginnt der Theaterschabernack so richtig und man ahnt schon, das hier überzeugt gekonnt. Da wird ohrwurmträchtig gesungen, getanzt und musiziert. Die Live-Musik erhöht den Schunkelfaktor ungemein und das Publikum erfreut sich an der so offensichtlichen Spielfreude und dem Spielkönnen der Darsteller. Diese Spielfreude hält auch in der Pause an, in der die Schauspieler bühnenpräsent sind und nochmal unglaublich aufdrehen. Das kann nur noch übertroffen werden von der zweiten Hälfte, die mit Discokugel und noch mehr Verve aufwartet, fast möchte man mitfeiern, so lebhaft geht es da auf der Bühne zu. Mitreißend ist auch diese sehr starke Eve von Paula Hans. Um diese Figur spannen sich sehr intensive Momente des Stücks. Viel Freude hat man auch an der herrlich dümmlichen „Tante Briggi“ mit ihren großen, runden, dummen Augen und dem Hang zur übertriebenen Selbstdarstellung – diese etwas andere Frau Brigitte fügt sich wunderbar in den dörflichen Figurenkosmos von Huisum ein. So will sie doch tatsächlich den Teufel nachts vor Eves Zimmer getroffen haben und schildert den Übeltäter so genau, dass klar wird, einige Dorfbewohner wollen hier gar nicht begreifen, dass Dorfrichter Adam höchstpersönlich Eve nachts einen Besuch abgestattet hat. Auch der Gerichtsrat ist plötzlich gar nicht mehr an einem ordnungsgemäßen, fairen Prozess interessiert. Die aufgedrehte Inszenierungsform passt zu dem Verwirrspiel um Recht und Unrecht, welches der korrupte Staatsdiener Adam, der doch ein so ehren- und würdevolles Amt innehat, da veranstaltet. Die Aktualität um korrupte Machtinhaber, die an Aufklärung von Missetaten nicht interessiert sind und ihr Amt zum eigenen Vorteil nutzen, ist augenscheinlich ein Glücksfall und lässt diesen kurzweiligen Theaterabend umso witziger werden. Und so verlässt man beschwingt summend das Deutsche Theater und kann sich auch im Nachhinein nochmal über so viel gekonnte Respektlosigkeit freuen.

Richter-Rauswurf am Tag nach Wulff-Rücktritt

Oft bemüht sich Theater, das Leben wahrzunehmen, es zu analysieren und zu hinterfragen. Manchmal eher global, bisweilen auch politisch. Das allerdings eine Produktion derart punktgenau auf aktuelle Tagespolitik passt wie „Der zerbrochne Krug“ ist schon außergewöhnlich. Regisseurin Thoms hat einen ziemlich grellen Reigen inszeniert, jedoch der Versuchung widerstanden, den Stoff überdeutlich mit fragwürdigen Verbindungen zur Tagespolitik zu spicken. Sie folgt Kleists Text, hat ihn jedoch erweitert. Zwei Journalisten betreiben das Dorfradio „Sender Freies Huisum“. Das bietet Gelegenheit für das Einstreuen von lokalen Meldungen und musikalischen Einsprengseln – das Loblied auf das Dorf Huisum beispielsweise, das alle Akteure hin und wieder ausgelassen schmettern – die sich gerade wegen ihrer Schlichtheit zu Ohrwürmern entwickeln können. Thoms hat aber die grundsätzliche Struktur belassen, die die Rolle des Dorfrichters zu einer Paraderolle für viele der ganz Großen in der Theatergeschichte machte. In Göttingen füllt sie Paul Wenning mit saftigem Leid und Leben. Sein Adam ist jämmerlich, hinterhältig, bauernschlau, lustvoll, deftig, verschlagen, kurz: eine pralle, lebendige Figur, Wennings Darstellung ein Glanzlicht.

Triebhafter Untergrund der gesetzlichen Ordnung

Das DT Göttingen zeigt Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“ in der so erfrischenden wie werkgerechten Inszenierung von Antje Thoms. Schon wieder so eine moderne Zu-, gar Hinrichtung eines klassischen Stücks? So mag mancher gedacht haben beim ersten Blick auf Florian Barths Bühne: vor halbrundem Landschaftsbild mit Schafen ein Dorfdurcheinander, die Gerichtsstube im Getränkekistenstil, und das Dorfradio spielt die Musik dazu. Aber die wilde Szenerie steht ganz einfach für den Zustand Adams (und des Menschen schlechthin), auch für die feierfreudige, etwas schräge Dorfgemeinschaft, für den triebhaften Untergrund der gesetzlichen Ordnung. Und nie verliert Antje Thoms, nie verlieren die Schauspieler aus den Augen, dass gerade auch in diesem Kleist-Stück die Sprache die Hauptrolle spielen muss. Vorneweg Paul Wenning, der als Richter Adam souverän durch den Fall führt. Stets anpassungsbereit den eigenen Nutzen verfolgend, macht Wenning den Adam zur tragisch-komischen und dabei immer tragenden Figur der Inszenierung. Gerichtsrat Walter kommen die Tränen, als er mit dem Dorflied „Es ist so schön bei uns in Huisum“ empfangen wird. Bald bekommt er Zustände. Während er sich um ein ordentliches Verfahren sorgt, bevorzugt der derangierte Adam in diesem Fall ein schnelles. Eine Pause verträgt dieser trotz und gerade auch mithilfe aller Ablenkungen stringent entwickelte Kasus nicht so leicht. Die Göttinger indes lassen einfach die Verhandlungspause nach dem zehnten Auftritt zu einer überschwänglichen Feier ausarten, in welche die Zuschauer nach ihrer Getränkeaufnahme hineingeraten. Da wird Adam, der wiederholt keinen Grund sieht, jenseits seines Richtstuhls „gravitätisch wie ein Eisbär“ sein zu sollen, zum Tanzbären, da lässt selbst der korrekte Walter kurz die Sau raus. Kräftiger Applaus