„Furios in Szene gesetzt: Diese Regensburger Erstaufführung über Wahrheit, Lüge, Täuschung und Schein ist so aktuell wie zur Zeit ihres Entstehens.“

2023, Inszenierung am Theater Regensburg

Text und Musik: Marcellus Schiffer und Mischa Spoliansky Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Maxi Ratzkowski Ausstattung: Jan Hendrik Neidert & Lorena Díaz Stephens Musikalische Leitung: Thomas Basy Choreografie: Felix Rabas Fotos: Tom Neumeier Leather

Mit: Joscha Eißen, Johanna Kunze, Thomas Mehlhorn, Jonas Julian Niemann, Sophie Juliana Pollack, Max Roenneberg, Katharina Solzbacher, Franziska Sörensen, Guido Wachter, Natascha Weigang und Thomas Basy, Oliver Hien, Ralf Funk, Reinhard Greiner / Jörg Hartl, Markus König / Christoph Hörmann, Matthias Baumann / Tobias Horn

“Hier wird nur markiert.”

Auf der Suche nach Abenteuer schaltet Evelyne Hill eine Kontaktanzeige und prompt folgt ein Blinddate mit Tonio Hendricks. Der hat sich für den ersten gemeinsamen Abend viel vorgenommen, dumm nur, dass die beiden einen Autounfall haben, der alle Vorhaben durchkreuzt. Tonios Wagen ist hin, genau wie Evelynes Garderobe. Das wäre alles nur halb so schlimm, hätte das Duo beim Kennenlernen nicht geschwindelt: Tonio ist gar kein reicher Erbe, sondern ein mittelloser Chauffeur und Evelyne keine vermögende Tochter aus gutem Hause, sondern Verkäuferin. Jetzt heißt es: zusammenhalten. Auf der Suche nach Hilfe treibt es die beiden in einer einzigen rauschhaften Nacht durch eine Welt, in der nicht nur die Kulissen Attrappen sind. Ein Abenteuer, ganz nach Evelynes Geschmack.

Die musikalische Burleske ALLES SCHWINDEL, uraufgeführt 1931 in Berlin, ist eine echte Wiederentdeckung und ein aberwitziger Parcours durch gesellschaftliche Scheinwelten.

Absurd bunte Revue

“Velodream” steht auf dem großen Schild an der Bühne im Antoniushaus und gibt einen Fingerzeig auf das, was die Zuschauer in den nächsten zweieinhalb Stunden erwartet. Am Anfang steht erst mal das Date von Evelyne und Tonio, und was passt besser zum Titel des Theaterstücks als die Angaben in einem Dating-Portal: Alles Schwindel. Ebenso wie geschönte Angaben in Verkaufsportalen oder in den Texten, die uns eine KI auf dem Smartphone serviert. Und der Begriff der ‚Alternativen Fakten‘ dürfte seit der Wahl eines bestimmten amerikanischen Präsidenten hinlänglich bekannt sein […] Librettist Marcellus Schiffer und Komponist Mischa Spoliansky schufen diesen flirrenden Parforceritt zwischen Schein und Sein, Absurdistan und Realität bis am Ende der turbulenten Story ein ebenso überraschendes Happy End steht – oder etwa nicht? Diese rasante Handlung wird von Antje Thoms mit den beiden Ausstattern Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens furios in Szene gesetzt. Sprechblasen im Wald und rempelnde Bäume, ein Comic-Schaukampf mit Plastikhammer und –beil in der Verbrecherkneipe und überdimensionierte gelbe Schleifen an der Abendgarderobe der ach so feinen Gesellschaft bringen eine absurd bunte Revue auf die Bühne. Die Band unter der Leitung von Thomas Basy interpretiert die Musik der ‚Roaring Twenties‘ spritzig und mitreißend, die Melodien bleiben im Ohr, nicht zuletzt, da das Ensemble mehrstimmige Gesangssätze im Stil der ‚Comedian Harnonists‘ einwandfrei vorträgt. Diese Regensburger Erstaufführung über Wahrheit, Lüge, Täuschung und Schein ist so aktuell wie zur Zeit ihres Entstehens.

Humorvoll und unterhaltsam

Da werden Elemente aus Comic-Heftchen verwendet, da wird mit großen aufblasbaren Hämmern aufeinander eingedroschen, da bieten die Bühnenakteure in der Pause dem Publikum vor dem Theater eine ominöse Halskette zum Verkauf an, und Travestie und Crossdressing haben Hochkonjunktur. In ihrer Inszenierung der musikalischen Burleske ‚Alles Schwindel‘ lässt es Schauspieldirektorin Antje Thoms am Theater Regensburg so richtig krachen. Dieses von Mischa Spoliansky komponierte und von Marcellus Schiffer getextete, 1931 in Berlin uraufgeführte Revue-Spektakel bietet dafür auch jede Menge Potential. Das Stück macht seinem Namen alle Ehre und überrascht immer wieder durch seine absurden Wendungen und seine Kritik an einer verlogenen Gesellschaft. Dadurch erfährt es in unserer Zeit der Fake-News und der sogenannten Alternative Facts eine neue Aktualität. Die Produktion hält der Gesellschaft auf amüsierende Art einen Spiegel vor, findet aber auch zu berührenden Atmosphären. So war der anhaltende Applaus am Premierenabend im gut gefüllten Theater im Antoniushaus durchaus gerechtfertigt. Wer einen unterhaltsamen und humorvollen Revue-Abend erleben will, ist hier richtig.

Grandiose musikalische Revue

Wenn sich also das Theater Regensburg entschließt, die musikalische Burleske knallbunt zu inszenieren, dann ist das nicht nur eine in ihrer Überfälligkeit groteske Züge tragende Wiederbelebung eingesargten Revue-Materials. Nein, nein, das zielt auch hochpräzise auf unseren Zeitgeist. Den wiederum einzufangen, das ist das Bestreben von Schauspieldirektorin Antje Thoms. Hier im Antoniushaus, in Begleitung des sechsköpfigen Orchesters unter Thomas Basy (der als Dirigent wie Pianist brilliert und dem als Grundlage nur ein kommentierter Klavierauszug zur Verfügung stand), setzt sie auf kraftvolle Comic-Bilder. Revuen wie ‚Alles Schwindel‘ lagen zeitgenössisch im Trend und boten Unterhaltung für breite Schichten. Berlin hatte importierte Prunk-Revuen satt, stattdessen sehnte sich das Publikum nach Jazz und ‚nach Witz, Inhalt, Verve und Elan der Musik des Wortes und der Darstellung‘. Genau diesen Anspruch konserviert diese auch musikalisch zart dem Gegenwartsgeschmack angepasste Revue – auch, weil das zehnköpfige Schauspiel-Ensemble musikalisch perfekt geschult wurde und bei mehrstimmigen Gesangseinsätzen Erinnerungen an die ‚Comedian Harmonists‘ weckt!

Zeitlose Qualität

Wie gut das deutsche U-Musiktheater vor allem dank jüdischer Komponisten und Autoren bis 1933 war, davon konnte man sich am Theater Regensburg einmal mehr überzeugen. Optisch gelingt das dank toller Ausstattung und Kostüme durchaus und erzeugt durch parlierende Pappkameraden und passgenau hochgehaltene Sprech- und Denkblasen einiges an Witz. Man verlässt die Ausweichspielstätte Antoniushaus mit einer Menge wunderbarer Ohrwürmer im Kopf. Der intensivste Moment, in dem die Revue für kurze Zeit in veritables Musiktheater umschlägt, ergibt sich, wenn Antje Thoms ihren Tonio Hendricks beim nachdenklichsten Song des umjubelten Abends nach langen Pausen immer wieder für eine neue Strophe auf die Bühne zurückkommen lässt.

Welche Lüge bringt die Wahrheit ans Licht?

Das Libretto wurde entstaubt, in die Jetztzeit befördert und Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens haben mit ihrer kongenialen Ausstattung ein Übriges dafür getan, dass hier alles, bis ins kleinste Detail, genau das verkörpert, was man sich unter modernem Theater vorstellt und wünschen kann. Nichts ist, wie es scheint, und alles scheint nur Teil eines Comics zu sein, um dann mit überraschenden Emotionen doch genau jetzt und hier stattzufinden. Alles wird hier aufgehoben, alle Erwartungen, die man vielleicht hat, werden grandios genau nicht erfüllt, dafür anders, immer wieder einfallsreich und überraschend. Kleinere Anspielungen wie zum Beispiel auf Freddie Mercury im sorgen für Schmunzler, größere Themen, wie die Umsetzung, das Thema Diversität krampffrei und ohne Holzhammer zu (er)leben, verursachen hingegen Bewunderung. Ja. Bitte. Genau SO!

Während das ganze Ensemble voller Überzeichnungen ist, kommen Natascha Weigang und Jonas Julian Niemann fast gänzlich ohne Make-up und »offensichtliche« Kostüme aus. Sie tragen dem Anlass entsprechende Alltagskleidung und bilden so einen wunderbaren Kontrast zu dem Rest der Geschehnisse. Schauspielerisch sind sie perfekt aufeinander abgestimmt, man wünscht ihnen, egal ob arm oder reich, das Happy End. Das kleine, aber sehr feine Ensemble hat echte Hochleistungen vollbracht. Zum Teil fanden die Umzüge auf offener Bühne statt. Die Rollen, in die die Darsteller schlüpften, waren zum Teil grotesk, zum Teil völlig überzogen, aber immer wieder voller Herzblut gespielt und überzeugend dargeboten. Die sechsköpfige Band spielte hervorragend mit dem Charme der Musik der damaligen Zeit. Durchaus mit modernem Einfluss umgesetzt schafften es die Lieder sofort, dieses gewisse Lebensgefühl zu erzeugen, welches mit den Goldenen Zwanzigern so gern verbunden wird. Mit ›Mir ist so nach dir‹ wird ein gesanglicher Hochgenuss präsentiert, der nicht nur an dem Abend, sondern für viele weitere Tage im Kopf bleibt. »Heute ist alles so zweifach, so mehrfach, so schwerfach. Gibts in unserer Zeit noch einen Sinn?« – so lautet ein Zitat aus dem Stück. An diesem Abend in Regensburg ist alles so leichtfach und alles ergibt Sinn. Wie ist es wunderbar, wenn Theater genau dieses Gefühl zu verschaffen vermag!