„Antje Thoms hat für das Staatstheater einen fantastischen Parcours durch das düstre Labyrinth des Laut-Klubs entworfen.“

2022, Uraufführung im Laut Klub / am Staatstheater Braunschweig

Text: Antje Thoms nach E.L. Doctorov, Raoul Schrott, Judith Schalansky Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Katharina Gerschler Ausstattung: Ute Radler Musik: Jan-S. Beyer Fotos: Thomas M. Jauk / Stage-Picture

Mit: Cino Djavid, Valentin Fruntke, Luca Füchtenkordt, Götz van Ooyen, Saskia Petzold, Heiner Take, Paul Wenning (Tonaufnahme)

Die Gegenwart ist nichts Anderes als zukünftige Vergangenheit.”

Auf den Spuren zweier exzentrischer Brüder erkundet »Das letzte Leuchten« die Schönheit des Verschwindenden und die Macht der Erinnerung. In Kleingruppen bahnen sich die Zuschauer*innen, ausgerüstet mit einem Grundriss, einer Taschenlampe und einem Tagebuch, selbst ihren Weg durch die geheimnisvollen, offenbar unbewohnten Kellerräume einer Immobilie kurz vor dem Abriss.
Den Ursprung für den Theater-Parcours bilden Texte von Alan Weisman, Raoul Schrott, Judith Schalansky und die reale Geschichte zweier Brüder – in “Homer und Langley” von E.L. Doctorov fiktionalisiert – die sich in einer verfallenen Villa zwischen Sammlerobjekten verbarrikadieren und konsequent von der Außenwelt abschotten. Während der eine Bruder auf der Suche nach der Essenz der Dinge wahllos gleichartige Gegenstände anhäuft, fieberhaft an seinem Projekt der einen immerwährenden Zeitung arbeitet und einen juristischen Kleinkrieg mit den zuständigen Ämtern führt, horcht der andere Bruder, früh erblindet und ein genialer Pianist, nur in sich selbst, die Vergangenheit und sein Klavierspiel hinein. Beide Brüder merken dabei nicht, wie sich das Gebäude, in dem sie einst die festlichen Abendessen der Eltern bei Kerzenschein bestaunten und in dem sie nun auf engstem Raum hausieren, nach und nach auflöst, die Natur sich ihren Weg hinein bahnt und streunende Katzen, Kakerlaken und anderes Ungeziefer sich ihren Lebensraum zurückerobern.

Erkundung einer Welt aus Krempel, Tod und Müll

Unwirtlich wirkt die urbane Landschaft. Aber es gibt eine Oase rustikal improvisierter Heimeligkeit. Im noch nicht strukturgewandelten Teil der industriell geprägten Braunschweiger Nordstadt lockt die freiluftige Leise-Bar hinter einer menschenhohen Lattenmauer in den Laut-Klub. Wände wurden in eine ehemalige Tiefgarage eingezogen und so mehrere Dancefloors geschaffen, designt mit Kunst aus Spraydosen. Der Außenbereich kontrastiert die karge Coolness und schafft kauzige Gemütlichkeit mit Flohmarktfundstücken, Paletten, Metallschrot, Disco-Kugeln und Grünzeug in Ölfässern. Ein wirklich charmanter Ort der Techno-Kultur ist dieser Klub, dessen Betreiber den Betrieb gerade wieder hochfahren. Zwischendurch nutzt Regisseurin Antje Thoms das Ambiente, um fürs Staatstheater „Das letzte Leuchten“ anzuzünden.

Thoms inszeniert keine Dramatisierung, sondern eine Situation: das Schwanken zwischen noch irgendwie in der Wirklichkeit verhaftet und gleichzeitig ganz tief verkrochen sein in der eigenen Welt. Zugespitzt in der Behauptung, dass Leben immer auch Tod bedeutet, „jedes Ding immer schon Müll, jedes Gebäude immer schon Ruine und alles Schaffen nichts als Zerstörung“ sei. Alles, was existiert, ist im Vergehen begriffen. Gegen die daraus resultierende Verlorenheit revoltieren die einsiedlerischen Brüder mit ihrem allumfassenden Aufbewahrungswahn. Mit dem lässt sich die „Gewissheit einer festgefügten Welt“ gegen die „unendliche Leere des Denkens ohne Substanz“ illusionieren. Wobei sie nicht ikonografische Rebellen, nur Scheiternde an ihren Hoffnungen und Ambitionen sind. Im Zentrum steht einer der Brüder, der in jedem der sechs Räume von einem anderen winterlich eingemummelten Ensemble-Mitglied auf Schlittschuhen gespielt wird. An der Theke des Klubs stolpert er einem zuerst in den Weg, flüstert von seiner langsamen Erblindung, später von seiner fortschreitenden Taubheit: äußere Zeichen seines Verschwindens aus der Welt. Gefangen in der Einsamkeit seines Bewusstseins – diese Atmosphäre durchströmt die Performance. Alle Räume sind gruftig dunkel, aus alten Radios oder Lautsprechern sind gruselkitzelige Geräusche zu hören, hochfrequente Töne, rattiges Gekrabbel oder vogeliges Geschrei. Mal sorgen funzelige Scheinwerfer, mal elektrische Teelichter für scheue Akzente. In einer Museumsvitrine verwest eine Katzenleiche. Ein Traumraum ist mit funkelnden Einmachgläsern geschmückt, in denen laut Aufschrift Erinnerungen verschlossen sind. In einem Kabuff hinter der Garderobe sitzt eine Darstellerin auf einem Kinderbett und hantiert mit Holzspielzeug. Besonders beeindruckend das Scheinwerferballett im zentralen Saal, dessen Lichtstrahlen durch malerisch wabernden Nebel tanzen, während Metronome gegeneinander tick-tacken. Was sich laut Vorlage in dem Raum türmen soll, besingt ein besonders melancholischer Darsteller am Klavier und lässt so das Abwesende faszinierend präsent werden.

Der Besucher fungiert vor allem als Eindringling ins monadische Räsonieren der Schauspielenden. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen stimmungsdichten, anspielungsreichen Abend über den Umgang mit dem Tod: einen Versuch, Frieden mit der Vergänglichkeit zu schließen.

Wenn das Dunkle vom Angstraum zur Heimat wird

Antje Thoms hat für das Staatstheater einen fantastischen Parcours durch das düstre Labyrinth des Laut-Klubs entworfen: Die Tür fällt ins Schloss. Muffig riecht’s. Das Auge gewöhnt sich nur langsam an die Finsternis, hält sich an einen Lichtschimmer, der um die nächste Ecke glimmt und einen so näherlockt. Ja, hier lässt sich in den Nebelschwaden eine Bar ausmachen, Kühlschränke und Polster, die man in einer Art Box erklimmen kann. Hinter einem bleibt’s finster. Ist da nicht noch jemand hinter uns mit hineingeschlüpft in den Gang? Raschelns tut’s. Man guckt sich lieber einmal mehr um, damit einen nicht plötzlich jemand unerwartet berührt. Wie der Schauspieler Valentin Fruntke, der immer erst kurz vor den Personen stoppt, sie leise streift, sonst ins Leere fragt, ob wir noch da seien. Die labyrinthischen Gänge des Braunschweiger Laut-Klubs, in ihrer Originalausstattung nur um weniges ergänzt, bilden den atmosphärisch idealen Rahmen. Regisseurin Antje Thoms und Ausstatterin Ute Radler haben wohl nur hier und da ein paar Schlittschuhe, Einmachgläser, Bauklötze dazugetan. Gehören die getrockneten Orangenschalen zu den Drinks, die hier sonst gemixt werden?

Die Zuschauer werden in Fünfergruppen ins Gebäude gelassen. Drinnen soll man durch Gong und das Vordringen der Stimmen aus dem nächsten Raum weitergetrieben werden. Diese werden wahrhaft spannend und mit einer stillen Verschworenheit bespielt. Es ist Klaviermusik, die uns aus der Bar in den nächsten, größeren, nur durch eine Tischlampe dämmrig umrissenen Raum lockt. Cino Djavid spielt in sich versunken am Klavier. Seine Uhrensammlung hören wir als Metronome. In dem kleinen Verlies hinter der Garderobe machen wohl sonst Servicekräfte mal ein Nickerchen auf dem ranzigen Ledersofa. Zwischen Orangenschalen und Bauklötzern entwickelt hier Saskia Petzold suggestiv die klaustrophobische Welt, hinter den Wänden lauern Ratten und Ungeziefer. Häuser sind Grüfte, in denen Pilze und Bakterien für den Verfall sorgen wie im Grab. Bei Götz van Ooyen erleben wir einen Philosophen, der Mensch als Mirakel wie die Kaffeemaschine, auch hier keine Rebellion, sondern fügen, staunen, introvertiert leben. In der Garage mit Erdhaufen zeitigt die Isolation Wirkung. Das letzte Zimmer ist klein wie das Grab.

Spannende Räume und suggestiv Schauspielende machen den Parcours zu einer fantastischen Begegnung mit Urängsten und heimlicher Gewöhnung. Das Dunkle galt den Romantikern als Heimat, sie mögen auch die sonstigen Nutzer des Laut-Klubs hier suchen.