„Sollte dieses Stück den Ton setzen für die Zukunftsmusik des neuen Ensembles – Uraufführungen, die auf kluge Weise die Konfliktlinien der Gegenwart sezieren und sie zugleich szenisch süffig umsetzen: Dann bitte gerne mehr davon.“

2022, Uraufführung am Theater Regensburg

Text: Anne Jelena Schulte Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Daniel Grünauer Ausstattung und Video: Florian Barth Musikalische Leitung: Arno Waschk Fotos: Pawel Sosnowski

Mit: Enzo Brumm, Michael Haake, Silke Heise, Gerhard Hermann, Maximilian Herzogenrath, Michael Heuberger, Anna Kiesewetter, Thomas Mehlhorn, Katharina Solzbacher, Franziska Sörensen, Guido Wachter, Natascha Weigang, Arno Wasck und Constantin Brandscherdt, Jürgen Hiermaier, Leonhard Pernpeintner, Marian Wagner, Michael Weigert, Julius Weleba und Hedy Grotz

Als könne man die Zukunft auf die Zukunft verschieben.”

Ein zeitreisender Komponist aus der Zukunft landet in Bayern – genauer gesagt in der Oberpfalz. Er soll die Jahre der Pandemie vertonen. Auf der Suche nach Inspiration begibt er sich in einen Corona-Winter unserer Zeit. Ratlos, wie er der Stille und dem angehaltenen Leben Musik entlocken soll, greift er zum mittlerweile in Bayern Kult gewordenen Bierhandschuh. Mittels dieses ganz besonderen Handschuhs, der dem Trinken im Freien dient, gelingt es dem Komponisten, in die Köpfe der Menschen zu schauen. Vor seinen Augen erblühen Fantasiewelten, Liebe und Apokalypse, Erlösung und Zerfall. Und die Musik beginnt in ihm zu spielen.

Das Auftragswerk – eine Zeitreise in unsere Gegenwart – basiert auf Recherchen der Autorin Anne Jelena Schulte. Sie hat in Regensburg Social-Media-Stars, Forscher*innen und Traditionsunternehmer nach ihren Zukunftsvisionen befragt. Aus diesen Gesprächen ist ein Stück entstanden, das mit viel Humor sowohl Erlösungs- als auch Weltuntergangsfantasien aufgreift, die zugleich eine Vermessung heutiger Sorgen und Sehnsüchte sind.

Lebendiges Wimmelbild

Das Resultat: ein knallbuntes Assoziationsfeuerwerk, ein forderndes Lehrstück, eine absurde Komödie, ein spartensprengendes “Schauspiel über Regensburger Wahrheiten”, dessen viele Fäden Antje Thoms in ihrer Uraufführung zusammenhält. Der Bierhandschuh, das ausdrucksstarke Mienenspiel in heiligem komödiantischen Ernst, Choräle, in denen über Muschelahorn und Rosmarinöl gesungen wird, all das macht einen großartig absurden Assoziationsraum auf. Das Publikum lacht über den makabren Tanz um die eigenen Blasen, in die sich Neo-Barockmenschen, Bienenköniginverehrer und Ameisenmenschen aufsplittern. Diese wollen sich mit Ameisensäure die Schädeldecke porös ätzen, um so einen offenen Geist zu erreichen. Kinder wollen Erwachsene im Fluss taufen, damit sie klares Wasser und saubere Luft wieder zu schätzen wissen. Auf die Frage des geschundenen triefnassen Erwachsenen nach dem Grund antwortet die Kinderpräsidentin, ohne mit der Wimper zu zucken: “Wir kommen aus einer Welt, in der wir für eine Zukunft erzogen wurden, die vor unseren Augen zerstört wird.” Die Erwachsenen, sie müssen in der Vision des Kindes in einer Diktatur der Zukunft erst geläutert und dann in Chorproben umerzogen werden. All das könnte zu viel für ein Stück sein, die Produktion könnte krachend an der eigenen symbolischen Aufladung scheitern, sich in einer Art groteskem Karneval verlieren – aber dank Antje Thoms‘ Inszenierung fällt nichts auseinander. So ergibt sich eine Traumreise in die Ängste und Befürchtungen der Regensburger, die voller Wahrheitsfacetten steckt – als lebendiges Wimmelbild, absurde Komödie, Abgesang auf eine sich selbst zerstörende Kultur.

Konfliktlinien der Gegenwart

Zukunftsmusik führt uns eine Welt vor Augen, die zerfällt in unversöhnliche Standpunkte, auseinander getrieben durch Pandemie, Klimakatastrophe und schwankende Gewissheiten. Was schwer klingt, kommt leicht daher – wegen der guten Portion Humor und weil die Szenen so schön bunt und absurd sind. Sollte dieses Stück den Ton setzen für die Zukunftsmusik des neuen Ensembles – Uraufführungen, die auf kluge Weise die Konfliktlinien der Gegenwart sezieren und sie zugleich szenisch süffig umsetzen: Dann ja, bitte gerne mehr davon.

Großes Versprechen auf die Zukunft

Immerhin ist die Ausstattung des Abends sehenswert bildmächtig und Thoms’ Rollenarbeit vorzüglich: Dieses Schauspiel-Ensemble bei der Arbeit zu sehen, ist ein durchaus großes Versprechen auf die Zukunft der Saison.